Mama oder Papa - Zu wem gehören die Kinder?

Vor einiger Zeit las ich einen sehr berührenden persönlichen Blogbeitrag. Tina beschrieb die Reaktion in ihrem Umfeld darauf, dass sie etwas “frevelhaftes” getan hatte. Sie hat sich von ihrem Partner getrennt, und die gemeinsamen Kinder beim Vater gelassen. Ganz bewusst hat sie sich dafür entschieden, eine Wochenend-Mama zu werden. Sie schrieb: “Ich liebe meine Kinder und glaube fest daran …dass der Vater ebenso vollwertiges Elternteil ist, wie die Mutter, und die Kinder so oder so einen Verlust erleiden, ob nun die Mutter auszieht oder der Vater.” Für diese Entscheidung bekommt sie nun Vorwürfe.

Liebe Tina, ich würde Dich gerne drücken für deinen Beitrag, Du sprichst mir aus dem Herzen. Wir wollen Emanzipation, wir wollen engagierte Väter, wir wollen eine gleichberechtigte, moderne Gesellschaft – dann bitte mit allen Konsequenzen. Kratzen wir am tradierten Denken! Warum soll eine Mutter, die ihre Kinder im gewohnten Umfeld beim Vater lässt, eine schlechte Mutter sein? Kinder können wunderbar beim Vater leben, wenn der für sie sorgen will. Ich weiß, wovon ich spreche.

Meine Mutter hat vor 40 Jahren den gleichen Entschluss gefasst wie Du. Damals vielleicht noch ungewöhnlicher als heute. Ein kurzer Rückblick: Ich komme aus einer Kleinstadt in Norddeutschland. Nur sehr wenige Mütter meiner Klassenkameradinnen arbeiteten, eigentlich kann ich mich neben meiner Mutter nur an Frau K. erinnern, die war Ärztin. Noch wichtiger: Kein einziges Kind meines Jahrgangs hatte geschiedene Eltern. Kaum vorstellbar heutzutage.

Das erklärt wahrscheinlich auch meine Reaktion, als meine Mutter mich eines Tages zu sich rief und sagte, sie müsse in einer sehr ernsten Angelegenheit mit mir sprechen. “Au weia”, das konnte für mich damals nur eines bedeuten: sie hatte von meinen heimlichen Zigaretten mit Karin und Annette erfahren … Wie erleichtert war ich, als sie statt dessen sagte, sie würde meinen Vater verlassen und ausziehen. “Puh”, dachte ich, “Glück gehabt und nicht erwischt worden”. Die Dimension ihres Satzes war mir in dem Moment überhaupt nicht klar. Wie auch, wenn ich keine Vergleichssituation kannte?

Eine Woche später, an meinem 12. Geburtstag war es dann soweit. Wir zogen aus. Der Plan war folgender: Mein Bruder würde bei meinem Vater wohnen bleiben, ich sollte mit meiner Mutter in ihre neue Wohnung ziehen. Tagsüber würde meine Mutter weiterhin bei meinem Vater als Buchhalterin arbeiten, mittags für alle kochen. Haus und Geschäft lagen direkt nebeneinander. Abends fuhr ich mit meiner Mutter in die neue Wohnung im Nachbarort, am nächsten Morgen zurück zum Haus meines Vaters und von dort aus mit dem Rad zur Schule. Das Wochenende sollte ich in der Wohnung meiner Mutter verbringen.

Nach einem halben Jahr begann ich zu meutern. Ich war unglücklich mit der Situation, die meine Eltern für mich arrangiert hatten. Ich fand im Nachbarort keine Freunde. Unsere Wohnung dort war abseits gelegen, ich hatte kein Fahrrad, auch keine Schulkameraden im Ort. Es war eine andere Welt. Ich war einsam und meine einzige Bezugsperson war meine Mutter. Zu wenig für eine 12 jährige. Ich spürte, dass ich zurück wollte in mein gewohntes Umfeld. Und ich hatte Glück. So wie Du Tina, war meine Mutter stark genug, mich gehen zu lassen. Spitze Bemerkungen anderer Frauen hat sie wahrscheinlich auch gehört. Aber sie ließ sich davon nicht beirren. Sie wusste, mein Vater war vielleicht nicht der ideale Ehemann für sie – aber er war ein guter Vater.

Fortan lebte ich also bei meinem Vater, meine Mutter kam weiterhin in der Woche und arbeitete im Büro unten im Haus, mittags kochte sie für uns alle. Sicherlich keine einfache Situation für ihren Freund, also meinen Stiefvater, den sie irgendwann hatte und mit dem sie viele Jahre zusammen lebte. Aber ganz ehrlich –  darüber habe ich mir als Kind keine Gedanken gemacht. Ich mochte ihn, sah ihn, wenn ich abends oder am Wochenende mal mit zu meiner Mutter fuhr, aber er spielte keine große Rolle in meinem Leben.

Mein Vater war ein Patriarch der alten Schule. Es gab klare Regeln und auch Strafen. Er war streng, keine Frage. Aber er war auch eindeutig. Man wusste bei ihm ganz klar, woran man war. Mein Vater war immer interessiert an meinem Bruder und mir, auch wenn er natürlich nicht immer Zeit für uns hatte. Er musste ja arbeiten. Er hat mit uns Hausaufgaben gemacht, ging zu Elternabenden oder zur Theaterpremiere, wenn ich beim Schultheater mitspielte. Er nahm mich in den Arm, wenn ich Alpträume hatte, verteidigte mich, wenn ich etwas ausgefressen hatte – und schimpfte erst, wenn wir allein waren. Dann aber richtig :(

Für meinen Vater war gelebte Gleichberechtigung selbstverständlich. Mein Bruder und ich sollten lernen oder studieren, was unserer Neigung entsprach. Dabei stammte mein Vater noch aus einer Generation, in der Schulbildung für Mädchen überflüssig war, da diese doch sowieso heiraten würden. Er selbst war anders – musste es durch die Umstände vielleicht auch werden. Mein Vater hat geputzt, gekocht, Wäsche gewaschen und gebügelt. Und gleichzeitig hat er einen Betrieb mit mehreren Mitarbeitern geleitet. Er war ein glänzender Redner, konnte aus dem Stand Ansprachen halten, las sehr viel und konnte bei vielen Themen mitreden. Für einen Teenager, der alles besser weiß als die Eltern, nicht einfach. Ein Argument wie: “Aber meine Freundin darf das auch”, ließ er nicht gelten. Da musste ich mir etwas besseres überlegen. Auf die Idee, eine unserer heißen Diskussionen mit einem Tränenausbruch zu beenden (was ja angeblich typisch weiblich wäre) bin ich nie gekommen. es hätte mir wahrscheinlich auch nichts gebracht.

Mein Vater war prägender für mich als meine Mutter. Ich lese Grundrisse wie ein Buch, ein Blick auf den Stadtplan sagt mir genau, wo ich bin. Die meisten meiner Freundinnen können das nicht. Ist das ein Talent oder liegt es daran, dass mein Vater mit mir sehr oft in Neubaugebiete fuhr und durch die Neubauten ging? Er erklärte mir, was am jeweiligen Bau gut, und was schlecht geplant war. Oft zeichnete er einen seiner Meinung nach besseren Grundriss in den Sand. Später konnte ich mir bei meinen vielen beruflichen Umzügen etliche Besichtigungen sparen – ein Blick auf den Grundriss reichte mir, um abzusagen.

Gab es keine Probleme? Doch, das will ich nicht leugnen. Mein Vater hat mir keine Weiblichkeit vorgelebt. Wie auch? Ich hatte praktisch kurze Haare, einen furchtbaren Klamottengeschmack und war eher renitent als anschmiegsam. Schminke? Puppen? Kleider? Alles überflüssig für mich. Flirten, verführen, umschwärmt sein – was war das? Alle Mädchen in meiner Klasse hatten irgendwann einen Freund, ich nicht. In der Tanzstunde wurde ich nicht aufgefordert, sondern vom Tanzlehrer zwangsweise zugeteilt. Super, oder?  “Frau sein” habe ich mir selbst beigebracht. Relativ mühsam gestehe ich, und auch erst nachdem ich nach dem Abitur nach Berlin zog.

Ich habe viele Eigenschaften, die als “männlich” gelten. Liegt das daran, dass ich bei meinem Vater aufgewachsen bin? Oder ist das einfach ein Teil meiner Natur? Wer weiß. Ein Freund hat mich einmal als “Mogelpackung” bezeichnet. Er meinte, ich würde zwar aussehen wie eine Frau, aber handeln wie ein Mann. Ich habe lange darüber nachgedacht. Ich erfülle vielleicht nicht alle Erwartungen, die man allgemein hin an eine Frau stellt, aber...

Ich war immer unabhängig und habe mein eigenes Geld verdient, lasse mich aber gerne zum Essen einladen. Ich sage in Gesellschaft meine Meinung (falls ich zu dem jeweiligen Thema eine habe) und warte nicht erst ab, was anwesende Männer denken. Kann aber auch, wenn die Gemüter zu sehr hoch kochen, weiblich beschwichtigend eingreifen. Ich weine nicht oder werde “hysterisch” wenn ich nicht weiter weiß, aber wenn einem andern Menschen Unrecht geschieht, werfe ich mich wie eine Löwenmutter davor und verteidige ihn. Ich finde Gespräche über Windeln stinklangweilig, liebe es aber, an Babys zu schnuppern. Ich verwöhne meinen Mann mit selbst gebackenem Kuchen, lasse mich aber genauso gerne von ihm bekochen. Ich trage heute gerne schöne Kleider, roten Lippenstift und lackiere meine Fingernägel. Im Wald, unterwegs mit dem Hund, sieht man mich aber in Gummistiefeln und alten Jeans. Ich tanze gerne, kann mich aber nicht führen lassen. Sehr zum Leidwesen meines Mannes, der ein perfekter Tänzer ist. Aber auch kein Wunder nach der traumatischen Tanzschulerfahrung :(

Alles in allem halte ich mich nicht für eine Mogelpackung. Ich bin Frau, kein heimlicher Mann. Eine stolze, eigenständige Frau, die bei einem großartigen Vater aufwachsen durfte. Meine Mutter hat genau das getan, was eine Mutter tun sollte: Sie hat an das Wohl ihres Kindes gedacht, dessen Bedürfnisse wichtig genommen. Wenn das die Definition einer Rabenmutter sein soll, dann bin ich ein  Rabenkind. Und stolz darauf.

Liebe Tina, ich hoffe, dass ganz viele Menschen Deinen Blogbeitrag auf Vomwerdenzumsein lesen, und nachdenken. Dich nicht verurteilen, sondern anerkennen, dass eine Entscheidung im Sinne der Kinder viele Facetten haben kann. Du hast alles richtig gemacht. Lass Dir nicht weh tun. Ein Kind kann beim Vater genauso glücklich werden, wie bei der Mutter. Ich bin meinen Eltern dankbar, dass sie mich so werden ließen, wie ich heute bin: Eine Frau, die ihren Mann steht :)

Und falls Dein Ex-Mann einmal eine neue Frau in seinem Leben hat und Deine Kinder also eine Stiefmutter bekommen, würde ich mich freuen, wenn Du mir über Eure Erfahrungen berichtest.

Alles Liebe,

Susanne vom Stiefmutterblog

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