Sie wandern wieder, schon eine ganze Weile. Wir gehen ein Stück mit ihnen mit, um ihnen wenigstens für diese Laichsaison das Leben zu erhalten.

Jedes Jahr dieser sinnlose Tod auf den Straßen, kaum dass die ersten Nächte frostfrei sind!

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Oft gehe ich allein, manchmal gehen wir zu zweit, selten sind wir zu dritt. Wir tragen in der linken Hand einen kleinen Kübel und in der rechten einen Handscheinwerfer. Wir suchen nach ihnen.

In der Dämmerung gehen wir los. Es ist die Zeit ihres Aufbruchs.

Wir wissen, wo ihr Gewässer liegt und dass sie jedes Jahr an dieses Gewässer zurückkehren. So klug sind sie und so treu. Immer wieder zieht es sie zu dem Ort ihrer Geburt zurück.

Sie werden von Jahr zu Jahr weniger, was uns sehr bekümmert, manchmal sogar ein wenig Angst macht. Sie waren vor uns da, sie sind viel älter als wir. Sie waren die Ersten, die in der Lage waren, zwischen Wasser und Land zu wechseln.

Wenn sie unseren Planeten für immer verlassen, hat auch unsere Stunde längst geschlagen. Wir wissen das, aber wir verdrängen es. Es will uns nicht bewusst werden, weil wir so selbstherrlich geworden sind. Das Gefühl, Teil eines Ganzen zu sein, ist uns irgendwann verloren gegangen.

Vor einigen Tagen, als wir wieder unterwegs waren, ertönte ein leiser Pfiff, dann die Stimme: "Hier liegen zwei, aber die kannst du vergessen!"

Ich ging hin und sah im Scheinwerferlicht ein Krötenpärchen am Asphalt liegen. Tot! Überfahren! Das größere Weibchen hatte das kleinere Männchen bereits auf dem Rücken getragen. Sie waren unterwegs zu ihrem Gewässer, als dieses Auto kam...

Wut erfasste mich, denn wir befanden uns in einer Tempo-30-Zone, die Tiere waren am rechten Rand des Weges unterwegs, der Autofahrer hätte sie sehen müssen und hätte ausweichen können. Stattdessen hatte sein rechter Vorderreifen die Tiere voll erwischt. Wo hatte er nur seine Augen? Hatte er die Tiere gar aus Jux überfahren, weil er Kröten vielleicht hässlich findet?

Viele Gedanken schossen mir durch den Kopf. Gleichzeitig machte ich mir Vorwürfe, weil ich nicht früher losgegangen war. Warum nur musste ich noch etwas essen?

Ich schob meine rechte Handfläche unter den Bauch des Krötenweibchens, dem die Eingeweide aus dem Mäulchen quollen, und hob die beiden im Tod vereinten Tiere hoch, um sie doch noch zu ihrem Gewässer zu tragen - auch wenn ich leider zu spät gekommen war! :(

Das Weibchen ließ die Beine schlaff über meine Handkante herunterhängen, beide Tiere hielten die Augen fest geschlossen und bewegten sich nicht mehr

Am Wasser angekommen, legte ich die beiden Tiere auf einen kleinen Hügel aus Laub und Steinen. Ich setzte mich zu ihnen. Ich war sehr traurig, sehr betroffen. Ich mag Kröten sehr gerne, besonders die ruhigen Weibchen. Die Männchen sind eher hektisch und grunzen erbost, wenn man sie auf die Hand nimmt. :)

Nachdem ich fünfzehn Minuten am Rand des Wassers gesessen hatte, begann das Männchen sich auf dem Rücken des Weibchens zu bewegen. Es war gar nicht tot! Es hatte plötzlich die Augen geöffnet! Es drehte sich langsam um neunzig Grad und stieg vom Rücken des Weibchens ab, das heißt, es ließ sich mehr fallen. Es plumpste auf den Laubhügel und sprang von dort mit einem Satz ins Wasser.

Sogleich ertönte das aufgeregte Rufen der anderen Männchen aus dem Wasser, die den Neuankömmling wohl kurz für ein Weibchen gehalten hatten.

Ich war sehr erstaunt und freute mich riesig. War das Krötenmännchen nur scheintot gewesen? Hatte es nur eine Art Schock? Hatte das Weibchen mehr abbekommen, die letale Dosis sozusagen, weil es mit dem Bauch auf dem harten Asphalt gelegen hatte, während das Männchen am Rücken des Weibchens weicher gebettet war? Der Autoreifen musste das Männchen dennoch mit voller Wucht getroffen haben? Welche Rolle spielte bei einem Druck von tausend Kilogramm oder mehr die geringfügige, weiche Unterlage?

Fragen über Fragen!

Ich hoffte sehr, das Weibchen würde auch wieder lebendig werden! Durch den Abstieg des Männchens vom Rücken des Weibchens war auch in das Weibchen etwas Bewegung gekommen. Es rutschte vom Hügel langsam hinab, kam seitlich zum Liegen und zeigte mir noch einmal in aller Deutlichkeit seine Verletzung. :(

Dann machte es abermals eine seitliche Drehung, rutschte weiter ab und kam unten, auf Wasserebene, bäuchlings zu liegen, mit Blick direkt auf das Wasser, verdeckt von Laub und Geäst.

Ich war mir nicht sicher, ob das Weibchen zum Zeitpunkt dieses 'Turnexperimentes' nicht auch noch gelebt hatte! Wie konnte es so zielsicher abrutschen, um frontal zum Wasser zu blicken? Zufall? Oder war es eben erst in diesem Augenblick gestorben?

Ich erinnerte mich an die Aussage von Krötensammlern, dass sie verletzten Tieren mit den Stiefeln kräftig auf den Rücken treten würden, um sie von den Qualen zu erlösen. Das schaffte und schaffe ich nicht! Das Recht habe ich auch nicht! Nach jeder schweren Verletzung schüttet der Körper Endorphine aus, Tier und Mensch sind für eine Weile schmerzfrei!

Das ist ein Schutz der Natur, damit schwerverletzte Lebewesen vor lauter Schmerz nicht orientierungslos werden. Normalerweise hält dieser Schutz ein paar Stunden an, so lange, damit das schwerverletzte Tier in dieser Zeit noch flüchten und sich verstecken kann.

Ein paar Tage sind nun vergangen und das Erdkröten-Weibchen liegt noch immer da. Es ist ein friedlicher Platz, wo es liegt, ein Friedplatz, geschützt von Laub und feinem Geäst. Vormittags hat es die Sonne im Gesicht, nachts wird es von keinem Räuber geholt, keinen Aasfresser interessiert es und das Wasser ist nur wenige Zentimeter von ihm entfernt.

Jemand, so scheint es, wacht über dieses Erdkröten-Weibchen. Jemand macht es möglich, dass es so friedlich daliegen und auf das Wasser sehen kann, auch wenn seine Augen gebrochen sind.

In einer anderen Welt, in der nichts vergehen kann, ist dieses Erdkröten-Weibchen nicht tot. Dort befindet es sich gerade im Wasser und trägt ein Männchen auf dem Rücken.

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fischundfleisch

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pirandello

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