Sie sieht müde aus. Die Knitterfalten unter den tief umschatteten Augen bilden ein Muster, das an rissigen Wüstenboden erinnert. Wie lange ist es her, dass sie länger als 24 Stunden nicht an Geld und Griechenland denken musste, an die Flüchtlinge in ihren Booten und den Geifer, der das Ringen um eine Lösung für Europa ständig begleitet? Wie lange schon ist sie nicht mehr mit ihrem Mann spontan irgendwohin gefahren? Reden die zwei überhaupt noch miteinander? Wie geht es ihr gesundheitlich, um wieviele Stunden verkürzt sich ihr Leben mit jeder durchgestrittenen Nacht am Konferenztisch, mit jedem Termin, bei dem sie sich zur Zielscheibe derer macht, die aus der Sicherheit der eigenen vier Wände heraus alles besser wissen und natürlich die richtigen Worte gefunden hätten? Wieviele Termine hat sie allein an diesem Wochenende? Wieviele Stunden Schlaf bekommt sie pro Woche und wieviele Morddrohungen? Kränkt sie sich manchmal über die Fotos, die von ihr im Internet kursieren, auf denen sie ein Hitlerbärtchen trägt oder Zombie-Augen? Moment, höre ich eine empörte Stimme aus einem anderen Winkel meines Selbst sagen, es zwingt sie ja keiner dazu, Bundeskanzlerin zu sein und dann noch so einen Kurs zu vertreten oder so etwas, du weißt schon, zu einem jungen Flüchtlingsmädchen zu sagen. Die wird doch mordsmäßig bezahlt für den Job, entgegnet die Stimme, das muss sie aushalten, sonst ist sie falsch hier. Wer so einen Job macht, der steht da doch drauf - auf das Adrenalin, die Macht, die Gruppenfotos mit Obama und Putin und den anderen Big Playern ...Mag sein, schaltet mein Haupt-Ich sich wieder ein. Aber in diesen Tagen, in denen auf mehreren Ebenen über die Zukunft Europas entschieden und erst in der Rückschau erkennbar sein wird, ob die deutsche Bundeskanzlerin Merkel richtig gehandelt oder auf die richtigen Leute gehört oder an der richtigen Stelle Härte gezeigt hat, da bin ich ganz froh, dass sie "da drauf steht". Warum sie sich das alles wirklich antut, weiß ich natürlich nicht und schon gar nicht, ob sie die richtige Strategie verfolgt in der Flüchtlingsfrage, bei Griechenland und TTip und all den Dingen, die zu verstehen es jeweils ein eigenes Studium und Jahrzehnte des Expertendaseins bräuchte. Aber ich bin ganz froh, dass sie es ist, die dort an den Konferenztischen sitzt, zum Flughafen hetzt, schon wieder auf einen Abend mit ihrem Mann verzichtet, den Dialog mit Bürgern zumindest sucht und in einer kritischen Phase dafür sorgen will, dass mein Traum von einem ganzen Leben in Frieden und Wohlstand nicht zerplatzt.Ich habe an diesem Wochenende keine Termine. Ich muss nicht an Geld und Griechenland und Flüchtlinge und Wirtschaftsverträge denken. Ich kann spontan irgendwohin fahren und in Ruhe mit meinen Liebsten reden. Und ich kann Kraft tanken, um am Montag wieder alles besser zu wissen als die Kanzlerin.