Hurra, wir haben wieder mal einen Grapsch-Skandal! Und gleich auf diesem Niveau: Kein Geringerer als US-Vizepräsident Joe Biden soll die Frau des soeben als Verteidigungsminister vereidigten Ashton Carter unsittlich berührt haben, schreien Medien weltweit auf und präsentieren nebst einer ausführlichen Schilderung des Moments auch Beweisstück Sex (siehe Video und stern-Beitrag unten)
„Erst legte er seine Hände auf ihre zarten Schultern“, schreiben etwa meine Kollegen von stern Online (Wenn ich mich schon aufrege, muss ich auch vor meiner eigenen Tür kehren) „dann beugte er sich zu ihrem Nacken, flüsterte ihr etwas ins Ohr und schließlich streichelte er ihr noch kurz über die Oberarme, bevor er seine Hände schnell wieder hinter seinem Rücken versteckte. Gerade noch rechtzeitig, bevor sich ihr Ehemann zu seiner Frau umdrehte, um ihr ebenfalls die Schultern zu tätscheln ...“
Ich stehe ja nicht im Verdacht, sexuelle Übergriffe zu verharmlosen. Ich wappnete mich nach dieser Beschreibung also für die nun bestimmt folgende Empörung meinerseits und drückte beim Video auf „Play“. Was ich dann sah, war – tja.
Um es kurz zu machen: Ich sah nicht, was die Kollegen gesehen hatten. Ich sah einen alten, mächtigen Mann, der der eine etwas angespannt wirkende Frau altvatrisch umpackte, wohl in der Meinung, ihr dadurch Rückhalt zu geben. In meinen Augen war es eine paternalistisch geprägte Geste, die typische Handlung eines Mannes seiner Generation, der selbstverständlich davon überzeugt war, dass die arme Frau Carter völlig verunsichert sei und nur er, Biden, könne ihr Halt geben, indem er sie in den Schraubstock seiner väterlichen Zuneigung steckt. Das ist selbstverständlich kritikwürdig, aber es berührt andere Ebenen einer möglichen Diskussion. Was diesem Moment trotzdem fehlte, war die unterstellte sexuelle Aufladung auf Seiten Herrn Bidens.
Sehr wohl sexuell aufgeladen hingegen sind die Berichte über diesen Moment: Da hat Frau Carter „zarte Schultern“, da wird „gegrabbelt“ ... Sämtliche Artikel, die ich dazu gelesen habe, zeigen eine ähnliche Wortwahl. Dazu bekommen wir den eigentlichen Trottel der ganzen Sache präsentiert, nämlich Herrn Carter, der nicht mitbekommt, wie hinter seinem Rücken sein Eigentum, seine Frau, angegraben wird. Und Frau Carter selbst? Die ist quer durch die Medien ein armes Hascherl, ohne eigene Position, ohne Handlungsspielraum. Es wird nicht einmal gemutmaßt, wie sie diesen Moment finden könnte, es spielt auch nicht die geringste Rolle.
Wer ist denn nun paternalistisch?
Natürlich ist es möglich, dass ich mich irre und Frau Carter von Biden sehr wohl sexuell belästigt wurde, denn die Definition darüber, ob es sich um sexuelle Belästigung handelte, trifft Frau Carter allein. Wer sie jedoch durch diese sensationsheischende, schwitzige Berichterstattung eindeutig sexuell belästigt, das sind wir Medien.
Dazu auch der oben erwähnte Bericht von stern Online: http://www.stern.de/panorama/joe-biden-streichelt-verteidigungsminister-gattin-stephanie-carter-die-schultern-2174437.html sowie das Video auf Youtube:
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