Als der Sommer verschwand, Teil 4

Am Abend bin ich mit M alleine. Sie legt sich zu mir ins Bett und wir rauchen ein paar Zigaretten. Es ist ziemlich neu, dass sie raucht und es fühlt sich komisch an. Ich mag es nicht, aber was kann ich ihr vorwerfen? Ich halte meinen Mund.

Wir reden, haben es fein. Langsam vertraut sie mir Details dieses Abends im Waldviertel an. Wie sie weglaufen wollte und gestürzt ist und die Jungs sie wieder zurück in den Keller getragen haben. Welch große Schmerzen sie hatte. Wie sie sich am nächsten Tag in der Badewanne die Pulsadern aufschneiden wollte.

Bei ihren Schilderungen breche ich in Tränen aus. Die Bilder in meinem Kopf sind unerträglich. Dann nimmt sie ihr Handy, um mir ein paar Fotos zu zeigen. Sie macht tolle Fotos und wieder denke ich mir, sie sollte eigentlich etwas in diese Richtung lernen.

Dann zeigt sie mir Bilder von dem Abend im Waldviertel. Einer der Täter ist darauf zu sehen, nackt, angemalt von oben bis unten. Plötzlich stutze ich – ich erkenne mehrere Hakenkreuze auf seinem Körper, der Schriftzug „Goebbels“ prangt an seiner Seite. Ich bin entsetzt und bitte M, mir die Fotos weiterzuleiten. Da zuckt sie aus – nein, wird sie nicht, das sind keine Nazis, das war nur ein Scherz der Jungs im Rausch. Ein Scherz, der vermutlich nichts damit zu tun hat, dass mein Kind jüdische Wurzeln hat? Verdammt, sie schützt immer noch die Falschen. Ich verstehe es nicht.

Dann spricht sie wieder. Sie erklärt mir, dass sie selber schuld ist, dass sie sich nicht genügend gewehrt hat. Ich frage sie, wie sie das meint. Sie weiß es nicht, weiß nicht mehr was real ist und was nicht. Einer der Täter hat sie auf FB kontaktiert und ihr gedroht. Sie wäre selber schuld, schrieb er. Sie hätte es wollen, schrieb er. Ich versuche, ihr klarzumachen, dass sie nur ihrer eigenen Wahrnehmung vertrauen soll und sich nicht von den anderen beeinflussen lassen soll. Es ist egal, was ihr die anderen erzählen, sie weiß, dass sie nein gesagt hat, sie hat versucht, wegzulaufen. Das ist real – nicht das, was die Täter ihr einreden, um ihren Arsch zu retten.

Die Tränen laufen unentwegt aus meinem Gesicht, sie lassen sich nicht stoppen. Bis M mir sagt, dass sie sich gar nicht mehr traut, mit mir zu sprechen. Wenn sie meine Reaktion sieht, fühlt sie sich zusätzlich schlecht und denkt, sie müsse mich schützen. Mir wird bewusst, dass es hier nicht um mich geht. Ich muss stark sein, mich wenigstens ein bisschen emotional von ihrem Leid distanzieren, sonst werde ich ihr nicht helfen können. Also spreche ich mit M, sage ihr, dass ich über alle Maßen stark bin und alles, was sie will, mit ihr durchstehen werde. Sie soll mir verzeihen, wenn ich weine, aber ich liebe sie so sehr. Sie soll sich keine Gedanken um mich machen, wir schaffen das schon. Ich will nicht, dass mein Kind noch zusätzlich belastet wird.

Es ist so schwer. Bitte, bitte lieber Gott, hilf. Mir ist so schlecht.

August 2014

Die Mädchen sind mit ihrem Vater zwei Wochen auf der Alm. Sie fuhren unter großem Protest, aber ich habe in diesem Fall ein Machtwort gesprochen. Ich will sie raushaben aus Wien, M soll zur Ruhe kommen und das kann sie hier nicht. Nicht, solange H, die nebenan wohnt, Druck auf sie ausübt. Dort oben auf der Alm ist sie in Sicherheit. Und auch ihre Schwester will ich aus Wien raushaben, sie soll Abstand bekommen zu den Ereignissen, die sie mir gebeichtet hat. Ich bin fest entschlossen, meine Familie nicht vor die Hunde gehen zu lassen. Ich lege mich mit allen an, wenn es sein muss, auch mit meinen Kindern. Mir ist lieber, sie sind wütend auf mich, als sie sind irreparabel geschädigt.

Tagelang denke ich nach. Über das, was passiert ist und über meine Rolle im gesamten Familiensystem. Und mir wird bewusst, dass alles irgendwie zusammenhängt. Noch vor einem Jahr hätten sie sich nicht getraut, meine Anweisungen oder Verbote zu umgehen. In der Zwischenzeit sind sie älter geworden und unser Verhältnis freundschaftlicher. Mir wird klar, dass ich zu sehr aus der Mutterrolle raus und in die Freundschaftsrolle reingeschlüpft bin. Und Freunde verbieten nicht, sie geben auch keine Anweisungen. Nicht, dass dieser Rollenwechsel eine bewusste Entscheidung gewesen wäre – es ging ganz langsam und schleichend vonstatten. Niemandem fiel es auf, bis der große Knall kam. Ich sehe plötzlich völlig klar, empfinde fast Freude über meine Erkenntnis und beschließe in der Sekunde, meine Rolle als Mutter zu verstärken. Ich schreibe nieder, was mir wichtig ist. Regeln zum Selbstschutz nenne ich es und diese Regeln werde ich den Kindern unter die Nase reiben, sowie sie wieder zurück sind. Das Denken und Planen gibt mir Kraft, ich habe endlich das Gefühl, aktiv etwas tun zu können.

2
Ich mag doch keine Fische vergeben
Meine Bewertung zurückziehen
Du hast None Fische vergeben
6 von 6 Fischen

bewertete diesen Eintrag

CPMan

CPMan bewertete diesen Eintrag 23.04.2016 17:05:25

fischundfleisch

fischundfleisch bewertete diesen Eintrag 22.04.2016 22:14:25

3 Kommentare

Mehr von Tabitha