Ende August 2014
Der Termin bei unserer Anwältin war ernüchternd. Mir war nie bewusst, dass Gesetze Auslegungssache sind und dass ein Fall je nachdem, wo er verhandelt wird, unterschiedlich bewertet werden kann. Dass es vom jeweiligen Staatsanwalt abhängt, ob überhaupt Anklage erhoben wird. Ganz nüchtern erklärt mir die Anwältin, dass es im Gerichtsstand St. Pölten nicht so gut ist, vergewaltigt zu werden, in Korneuburg schon besser, am Besten in Wien – denn da ist man streng. Ich fahre noch vor Ort aus der Haut, wissend, dass sie nichts dafür kann und mir nur die Fakten darlegt. Ich bin fassungslos. Die Prozessbegleiterin, die ebenfalls anwesend ist, versucht, mich zu beruhigen – M. soll vor solchen Ausbrüchen geschützt werden. Ich schäme mich und halte mich anschließend zurück. Ich versuche es so sehr, ruhig und stark zu bleiben, aber es gelingt mir nicht immer. M. meint nur ganz platt, dass wenigstens einer von uns was fühlt.
Auch die polizeiliche Anzeige findet nun statt. Eine Polizistin kommt in die Räumlichkeiten von Tamar und nimmt M.s Aussage auf. M. wird fünfeinhalb Stunden zu allen Details dieses Abends befragt. Zweimal bittet sie um eine Pause, es geht ihr sehr schlecht. Ich warte die ganze Zeit im Vorraum und bete um Kraft für mein Kind. Erst als sie jede Seite ihrer Aussage paraphiert, darf ich zu ihr. Ich sitze neben ihr und schiele auf die Zettel, die sie unterschreibt. Ich lese Wortfetzen („dreht sie um …“), die mich in der Sekunde zum Würgen bringen. Also zwinge ich mich, wegzusehen. Ich darf das alles nicht lesen, sonst ist es mit meiner Haltung vorbei. Ich muss, ja, muss unter allen Umständen stark bleiben, kann mir keine neuen Bilder im Kopf leisten. M braucht mich, ich bin ihr Fels.
Schenk uns bitte ein Like auf Facebook! #meinungsfreiheit #pressefreiheit
Danke!
Als es vorbei ist, fahre ich sie nach Hause. Eigentlich hätte ich noch einen Termin, aber ich sage ihn ab. Ich will sie jetzt nicht alleine lassen nach dieser Tortur. Ich lege mich zu ihr, in mein/ihr Bett. Wir reden nichts, schauen uns nur einen Film an. Aber ich merke, sie ist froh, dass ich da bin.
Anfang September 2014
Die Polizistin, die M.s Anzeige aufgenommen hat, ruft mich vormittags an, um mich für Mittag ins Kommissariat zu bestellen. Es kommt mir seltsam vor, dass der Termin so spontan stattfinden soll, aber da ich noch eine Woche daheim bin, beschließe ich, ihn wahrzunehmen.
Was ich dort erlebe, wird mir für immer im Gedächtnis bleiben. Die Polizistin ist sehr sachlich. Nachdem sie mich begrüßt und mir einen Platz angeboten hat, stellt sie die Aussage in den Raum, dass 90 % aller Vergewaltigungen eine Lüge sind. Ich frage sie, woher sie diese Zahl hat, aber sie antwortet nur, so sei es eben. Ich bin verwirrt, aber nicht zum letzten Mal an diesem Tag. Meine Aussage beginnt. Sie fragt mich, woher ich M.s Vater kenne, wann wir uns kennengelernt haben, wie lange wir zusammen waren, bevor wir heirateten, was er beruflich macht. Ich verstehe nicht ganz – was hat es mit M.s Anzeige zu tun, wie lange ich ihren Vater vor der Hochzeit kannte? Sie fragt mich, ob alle drei Kinder vom selben Vater sind. Ich bejahe, aber was spielt das denn für eine Rolle? Sie will wissen, in welche Schulen die anderen beiden Kinder gehen, wo und was ich arbeite und wie lange ich schon in meiner Firma bin. Langsam dämmert es mir. Hier geht es darum, mich sozial abzuklopfen. Aber nochmal: Was hat das mit M.s Anzeige zu tun?
Endlich kann ich die Ereignisse und das, was ich mitbekommen habe, aus meiner Sicht schildern. Auch fragt sie mich, ob ich H. kenne oder einen der Täter. Ich erzähle, was ich weiß und was ich vermute, erzähle von meinen Eindrücken nach M.s Supergau. Sie fragt mich, ob ich M. glaube. Und schickt nach, dass M. mit Gegenanzeigen und Verleumdungsklagen zu rechnen hat. Warum erzählt sie mir das? Was kümmert es sie?
Ich werde langsam grantig. Sie merkt es und rechtfertigt sich mit der Aussage, dass es sich hier um vier junge, unbescholtene Burschen handle und was für eine Katastrophe es für die bedeutete, wenn sie angeklagt würden. Mein Mitleid hält sich in Grenzen und das sage ich ihr auch. Mein Vertrauen in dieses Gespräch ist völlig dahin. Ein psychiatrisches Gutachten wäre wichtig, sagt sie noch. Und dass ich ihr das zukommen lassen soll.
Ich paraphiere meine Aussage und bin froh, es hinter mir zu haben. Drei Stunden – drei unerträgliche Stunden mit dem Gefühl, alles wäre bereits zu unseren Ungunsten entschieden. Während ich meine Aussage nochmal durchlese, sagt sie mir, dass es wahrscheinlich zu keiner Anklage kommen wird. Es stehe 5 gegen 1. Die vier Täter sowie H. hätten einstimmig ausgesagt, dass M. alles, was dort passiert ist, eh selber wollte. Sie plaudert auch aus dem Nähkästchen, gibt mir Teile der Zeugeneinvernahme weiter, wie zum Beispiel, dass im Raum stünde, ich wäre schwere Alkoholikerin und spielsüchtig, hätte massive Geldprobleme und mein jüngstes Kind wäre drogensüchtig. M. hätte die Geschichte nur erfunden, um Aufmerksamkeit zu bekommen, weil ich sie immer allein ließe.
Ich bin geschockt, kann das alles kaum glauben. In meinem ganzen Leben habe ich mit so viel Schmutz und Verleumdung noch nie zu tun gehabt. Das ist völlig neu für mich und ich fühle, wie Wut und Ohnmacht in mir aufsteigen. Trotzdem gebe ich ihr noch eine letzte Antwort, bevor ich endlich verschwinde. Ich sage ihr, dass das, was meinem Kind passiert ist, nicht weniger schlimm wäre, selbst wenn ich eine obdachlose, crackrauchende Prostituierte wäre. Auf diesen Satz bin ich richtig stolz – wenigstens kann ich mit erhobenem Haupt dort rausgehen.
Die Gülle umgibt mich und ich drohe, bis zum Hals darin zu versinken. Als ich nach Hause komme, setze ich mich auf den Boden der Dusche, lasse das warme Wasser über meinen Kopf rieseln. So nackt und verletzt war ich noch nie, mein Herz hängt in Fetzen runter. Ich brauche Tage und zwei ganze Therapiestunden, um mich von diesem Erlebnis auf der Polizei zu erholen. Das kann und darf doch alles nicht wahr sein!