Als der Sommer verschwand, Teil 7

Ein paar Wochen später wird meine Jüngste aufgefordert, ihre Aussage zu machen. Diesmal reagiere ich richtig und hole mir Hilfe von Tamar. Die Prozessbegleiterin erklärt sich sofort bereit, mein Kind zu begleiten. Ich bin ihr sehr dankbar, nicht auszudenken, wenn M`s Schwester dasselbe passieren würde, wie mir. Und wirklich, diesmal läuft alles korrekt. Trotzdem dauert es Stunden, bis die Aussage fertig ist und mein Kind wieder entlassen.

Wir gehen zu Fuß nach Hause und mein Kind erzählt mir von den Fragen, den Antworten, der Verzweiflung, die in ihr aufstieg, als sie alles, was sie mit M ab dem Tag nach der Tat erlebt hat, nochmal erzählen musste. Sie war die erste, der sich M anvertraut hat. Sie hatte die Erstversorgung ihrer Wunden übernommen, der seelischen sowie der körperlichen. Mitten im Gespräch und auf offener Straße bleiben wir stehen. Wir umarmen uns, heulen wie kleine Kinder. Die Leute, die vorbei gehen, sehen uns erschrocken an.

Hass

Er wird mich umbringen – ich weiß es genau. Tagsüber reiße ich mich zusammen. Ich arbeite, lausche auf mein Handy, jedes Klingeln lässt mich zusammenzucken, löst Panik aus. Ich habe Angst um mein Kind. Ich komme nach Hause, koche, setze mich zu den Kindern ins Wohnzimmer zum Essen, versuche, sie zu bespaßen, versuche, Ruhe auszustrahlen. Ich hungere nach Nähe zu meinen Töchtern, bin dankbar für jeden Kuss und jede Umarmung, die sie mir gönnen.

Nachts gebe ich mich meinen Gewaltfantasien hin. Ich stelle mir vor, wie ich den Tätern die Fresse einschlage. Das Adrenalin geht bei diesen Wachträumen so hoch, dass ich Herzklopfen bekomme und anfange zu zittern. Mir ist ständig schlecht – der purste und dunkelste Hass hält mich in seinen Fängen. Es ist die Sorte, die über alle Grenzen gehen kann.

Dann rufe ich mich zur Ordnung. Dieses ekelhafte Gefühl wird uns nicht helfen. Es zerstört und frisst mich auf, verbraucht all meine Kraft. Ich muss mich auf meine Familie konzentrieren, auf das Gute. Die einzige Möglichkeit, die Dinge wieder zu reparieren, ist die Liebe. Ich sage es mir wie ein Mantra vor. Wenn der Hass geht, fühle ich mich erleichtert, aber todmüde. Ich liege schweratmend auf dem Bett – bereit für die nächste Runde.

9.10.2014

M hat zwei Monate lang kaum etwas gespürt. Sie sagt, sie war innerlich tot und findet, das war besser, als der Zustand, in dem sie jetzt ist. Jetzt erst spüren wir alle die enormen Auswirkungen, die dieses Ereignis auf die Familie hat. M ist seelisch am Ende, sie schläft kaum noch, geht nicht mehr zur Schule, kann das Haus nicht mehr verlassen. Sie hat Angst vor H, deren Eltern, Menschen im Allgemeinen. Ihre Schwester ist ebenfalls am Ende. Sie sagt, es ist so, als wäre es ihr selbst passiert. Sie traut sich nicht, mit jemandem zu sprechen, weil sie findet, es gebührt ihr nicht, zu leiden. Daher darf sie sich auch keine Erleichterung verschaffen. Oh Mann – die arme Maus. Sie weint regelmäßig, dazwischen spielt sie den Clown für M, damit die wenigstens manchmal lachen kann, dabei ist sie ebenfalls schwer traumatisiert. Sie hat Angst vor Menschen, hat Angst vor der Dunkelheit, vertraut niemandem mehr. Und sie fühlt sich immer noch schuldig.

Meine Situation ist auch alles andere als rosig. Mit S. und mir geht es bergab. Ich brauche Zeit für meine Töchter, will bei ihnen sein, will M beistehen und mein anderes Kind wieder gerade rücken. Ich habe für nichts anderes mehr Zeit. Ich will mich nicht auch noch mit Beziehungsproblemen beschäftigen. Ich habe diese Kapazität nicht mehr. Ich brauche alle Kraft für meine Töchter und mich. Niemand anderer kann mich verstehen, niemand, auch S. nicht, weiß, wie es in M, ihrer Schwester und mir aussieht. Ich will es auch mit niemandem teilen, mich nicht erklären müssen. Ich will mich mit nichts anderem beschäftigen, alles, was nicht mit meiner kleinen Familie zu tun hat, ist derzeit so banal. Jeder andere, der etwas von mir will oder braucht, macht mich wütend. Beim Schreiben merke ich, wie schon wieder Zorn hochsteigt.

Montag, 13.10.2014

Es ist also so weit. S. hat mir gestern ein Stöckchen hingeworfen und ich habe es aufgehoben. Sie sagt, es hat keinen Sinn, ich wäre schon lange weg, hätte keine Kapazität mehr für eine Beziehung. Und ich weiß, es stimmt – weiß es schon lange. Und trotzdem tut es gerade irre weh. Ich versuche, mich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Versuche, es als Chance für mich zu sehen.

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