Als der Sommer verschwand, Teil 9

Anfang Dezember 2014

S. und ich haben uns vorerst versöhnt. Ich kann zwar absolut nichts geben, aber wir halten an uns fest und bemühen uns um eine Zukunft. Da wir die komplette Wohnung renovieren und auf einer Baustelle hausen, ist sie vorübergehend zu uns gezogen. Froh, mich wenigstens irgendwo unterstützen zu können, übernimmt sie die gesamte Koordination. Da sie die meiste Zeit im Home-Office arbeitet, ist M auch nicht mit den Handwerkern allein. Und ganz generell bemerke ich, dass es ihr guttut, auch mal tagsüber jemanden zum Reden zu haben.

Langsam bemerke ich eine Verbesserung von M´s Zustand. Sie spricht mehr, lacht auch wieder. Und sie freut sich auf die Reise nach New York, die ihr ihr Vater geschenkt hat. Durch die Reisevorbereitungen treten die negativen Ereignisse der letzten Zeit in den Hintergrund. M ist aufgeregt, sie hat eine Liste mit den Sehenswürdigkeiten angefertigt, die sie sehen möchte. Seit Tagen sitzt sie am Notebook und recherchiert. Und sie redet wie aufgezogen – es tut so unendlich gut, sie so zu sehen.

Mitte Dezember 2014

Gerade habe ich erfahren, dass keine Anklage erhoben wird. Der Staatsanwalt sieht keine Veranlassung, in M´s Causa tätig zu werden. Das psychiatrische Gutachten ist noch nicht mal fertig, aber, wie ich erfahren habe, wäre das sowieso nur nötig gewesen, wenn es die Staatsanwaltschaft verlangt hätte. Also alles umsonst.

Die Begründung lautet, dass von alkoholisierten, sexuell erregten, jungen Männern nicht erwartet werden kann, dass sie erkennen, ob ein Mädchen keinen Sex möchte, wenn dieses es nicht eindeutig kommuniziert.

In der Begründung steht auch, dass M. laut Zeugenaussagen gar nicht betrunken war. Alle 5 Beteiligten haben nämlich ausgesagt, dass sie nüchtern war. Daraus schließt der Staatsanwalt, dass es freiwillig gewesen sein muss. Ich verstehe nicht – erst hieß es, sie wäre selber schuld, weil sie betrunken war. Jetzt heißt es, sie ist selber schuld, weil sie nüchtern war. Ich ahne es – es ist völlig egal, in welchem Zustand mein Kind war, nichts hätte zu einer Verurteilung geführt.

Wie sage ich meiner Tochter, dass sie zur Lügnerin und zusätzlich auch noch zur Täterin gemacht wurde? Ohne Prozess, ohne ihr überhaupt zuzuhören? Wie sage ich ihr, dass es offenbar von Anfang an aussichtslos war? Wie soll ich ihr erklären, dass sie keine Schuld an dem hat, was ihr passiert ist, wenn ein Staatsanwalt, der sie nicht kennt, sie schwarz auf weiß zur Schuldigen macht? Was sage ich ihr, wenn sie mich fragt, warum sie überhaupt durch die Hölle einer Anzeige gegangen ist?

Ohnmacht

Die Ohnmacht ist die Schwester des Hasses. Nie zuvor in meinem Leben habe ich das gefühlt, was ich gerade jetzt fühle. Ich bereue, dass die Anzeige gemacht wurde. Hätten wir das alles doch bloß selbst in die Hand genommen. Keine Polizei, keine Verhöre, keine Wartezeiten, dafür sofortige, nachhaltige Konsequenzen für die Täter. Die Absage der Staatsanwaltschaft lässt all die Gefühle, die ich mich so lange bemühte, zurückzudrängen, aus mir explodieren. Wut und blanker Hass treiben mich aus dem Haus, in den Wald. Ich brülle wie am Spieß, möchte am liebsten mit dem Kopf gegen einen Baum rennen, ich will gewalttätig sein, irgendetwas muss ich zerstören, sonst bringt mich dieses Gefühl um. Ein Wildschwein auf der Suche nach Futter sieht mich erschrocken an und nimmt auf der Stelle Reißaus.

Jänner 2015

Die Katze ist nun aus dem Sack. Ich musste es M sagen. Um Weihnachten herum wollte ich sie nicht wieder runterziehen, sie war schließlich gerade dabei, sich ein bisschen zu erholen. Nun weiß ich nicht, wie es weitergeht. Wird sie wieder zurückfallen? Nach der Info zieht sie sich in ihr Zimmer zurück und kommt über Stunden nicht mehr heraus.

Ich fühle mich wie ein Versager. Tausend Gedanken schwirren mir im Kopf herum. Warum habe ich sie zur Anzeige gedrängt? War alles sinnlos? Wie kann es sein, dass sich dieses System „Rechtssystem“ nennt? Wo ist da bitte das „Recht“? Ich habe es unzählige Male gelesen – die Demütigung der Frauen im Zusammenhang mit sexueller Gewalt. Ich habe mich darüber aufgeregt, war fassungslos, mitfühlend. Jetzt, wo es meine Familie betrifft, ist alles noch ein Stück unwirklicher, unverständlicher und dramatischer. Ich habe keine Ahnung, wie M. damit fertig werden soll.

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