Eine junge Frau wollte mit dem, was ihr passiert ist, an die Öffentlichkeit. Es war ihr Wunsch, die Realität dessen klarzustellen, was sie erlebt hatte. Sie wollte nicht untergehen in einer namenlosen Masse und sich auch nicht damit begnügen, hinter Schutzbalken und falschen Namen eine Geschichte zu erzählen, die zwar traurig, aber genauso schnell vergessen wäre und nachhaltig nichts veränderte.
Die junge Frau beriet sich mit einigen Menschen und alle rieten ihr davon ab. Ob sie wisse, was auf sie zukäme, wurde sie gefragt. Und dass sie damit rechnen müsse, angegriffen und diffamiert zu werden. Das Internet sei voller „Irrer“. Sie würde sich nur selber schaden. Zum Schluss kam sie zu mir – ihrer Mutter - und fragte mich um meine Meinung. Nach langer Diskussion und Abwägen aller Für und Widers, sah ich mich gezwungen, die Entscheidung für sie zu treffen, bis sie stärker ist. Ich verpasse ihr also den Schutzbalken, aber nicht, um sie vor den „Irren“ zu schützen, denn mit denen würde sie fertigwerden,sondern vor dem Mainstream, der Sichtbarkeit und Öffentlichkeit aufgrund eingefahrener Denkmuster verhindern will und damit unbewusst die Täter unterstützt.
2013 gab es in Wien insgesamt 2680 Anzeigen wegen sexueller Gewalt sowie sexueller Belästigung. Nur 214 davon führten zu einer Verurteilung. Die Dunkelziffer für das Delikt Vergewaltigung liegt bei 1:11, für den Tatbestand der sexuellen Gewalt bei 1:15. Jede 4. Frau hat bereits eine Vergewaltigung erlebt, jede 3. Frau eine versuchte Vergewaltigung und jede 2. Frau wurde schon zu sexuellen Handlungen genötigt.
Schenk uns bitte ein Like auf Facebook! #meinungsfreiheit #pressefreiheit
Danke!
Die Zahlen alleine wären viele weitere Recherchen und Artikel wert, aber ich möchte sie heranziehen, um dem Thema, das ich ansprechen möchte, mehr Gewicht zu verleihen – der Unsichtbarkeit bzw. Begrenzung der Sichtbarkeit auf platte Zahlen.
Frauen und Mädchen, die sexuelle Gewalt erfahren, sind nämlich oft auch von einer ganz anderen Form der Gewalt betroffen. Gemeint ist die strukturelle Gewalt, die gesellschaftlich ausgeübt und derart verwachsen mit unserem Wertesystem ist, dass sie als solche gar nicht mehr erkannt und auch wenig hinterfragt wird. Schlimmer noch – im Laufe der Zeit wurde sie sogar legitimiert und flächendeckend zur empfohlenen Strategie erklärt, um Betroffene vermeintlich zu „schützen“.Sie dürfen zwar sprechen, aber nur aus dem Off. Sie dürfen Details nennen, aber nicht ihre Namen. Wenn sie Bilder zeigen, dann die aus der Kunsttherapie, nie ihre Gesichter. Allgemein wird angenommen, dass die „Opfer“ durch ein öffentliches Auftreten mit Beleidigungen, Beschimpfungen und erneuten sexuellen Belästigungen zu rechnen haben und dies zu einer neuen Traumatisierung führen würde. Abgesehen von der Frage, warum eine derartige Erwartungshaltung als „normal“ hingenommen wird, schiebt man den Betroffenen so auch gleich den schwarzen Peter zu. Sollte sich eine nicht an das gesellschaftliche Vermummungsgebot halten, ist sie selber schuld an allem, was in Folge passiert. Anstatt sich mit den Gewaltopfern zu solidarisieren und sie in ihrer Sichtbarkeit zu unterstützen, schlägt sich die Hauptschlagader der öffentlichen Meinung auf die Seite der Täter, indem sie sie dabei unterstützt, betroffene Frauen zu anonymisieren. Mehr noch, sie greift die unerwünschten Rebellinnen für ihr „Vergehen“ sogar an, indem sie ihnen im besten Fall Dummheit und Naivität, im schlechtesten Fall Lügerei (denn „echte“ Opfer sprechen nicht darüber), Aufmerksamkeitsdefizit oder Eigenschuld unterstellen. Kein Wunder, dass tausende und abertausende betroffene Frauen und Mädchen da lieber unsichtbar bleiben.
Unabhängig davon, dass es Frauen und Mädchen zusteht, mit diesen ihren Erlebnissen so umzugehen, wie sie es für richtig halten, errichtet die von der Gesellschaft ausgeübte strukturelle Gewalt eine Art abgeschotteter Nebelwand, hinter der sich die Geschädigten verlieren. Unsichtbar und blind zurechtgeformt, können sie sich nicht einmal gegenseitig stärken, geschweige denn nachhaltige Veränderungen auf der anderen Seite einzufordern. Eine Stimme ohne Gesicht ist nicht greifbar, was sie erzählt, nicht zuordenbar. Was jemand hinter schwarzen Balken oder Leinwänden sagt, hat schließlich keine Konsequenzen. Die so Versteckten werden zu Geschichtenerzählerinnen degradiert, deren Leid zwar bedauerlich ist, aber kein nachhaltiges Umdenken in der Bevölkerung bewirken kann.
Was wäre denn, wenn alle Betroffenen sich plötzlich öffentlich mit Foto und Namen dazu äußerten? Wenn all die tausenden Frauen aus der Nebelwand hervorträten und mit Stimme und Gesicht Solidarität einforderten? Würden diese Tausende alle beschimpft, beleidigt und sexuell belästigt werden? Oder würde sich, angesichts dieses Sturms, vielleicht doch gesellschaftspolitisch etwas ändern? Wenn die eingeschüchterten, schattenhaften Opfer sich zu entschlossenen Kämpferinnen gegen die Unsichtbarkeit transformierten, vielleicht sogar Unterstützung von der anderen Seite der Nebelwand bekämen, würde dies eine neue Ära einläuten, von der nicht nur wir, sondern vor allem unsere Nachkommen profitieren würden. Sexuelle Gewalt wäre nicht weiter Privatsache, mit der man nicht an die Öffentlichkeit geht. Unsere Töchter würden das Ihnen zugefügte Unrecht laut und wütend hinausschreien, ohne dafür geächtet zu werden. Der Druck auf Politik und Rechtsprechung würde steigen, Täter könnten sich ihrer Sache nicht mehr sicher sein.
Keine Frage – es ist für jede Betroffene legitim, weder darüber sprechen, noch sich namentlich outen zu wollen. Menschen gehen nun mal unterschiedlich mit Traumata um. Aber dort, wo Frauen nicht mehr einfach nur eine Zahl in der Statistik ohne Gesicht sein wollen, sollten wir sie unterstützen. „Schutz“ für die Betroffenen bedeutet nicht, ihnen dies im Hinblick auf vermeintliche „Psychopathen“ auszureden, sondern sie leidenschaftlich und loyal zu verteidigen, wenn diese „Psychopathen“ tatsächlich auftreten. Es wird Zeit, den Tätern klarzumachen, dass wir nicht mehr mitziehen.
An dieser Stelle möchte ich festhalten, dass auch sexuelle Gewalt gegen Männer und Jungen mit Sicherheit ein Thema ist, das zu wenig beachtet wird. Ich nehme an, dass sich die Gefühle und Denkmuster angesichts eines solchen Vergehens bei Männern und Frauen zu einem großen Teil decken. Trotzdem möchte ich mir nicht anmaßen, über die Probleme und Hindernisse, die sich speziell für Männer ergeben, zu schreiben. Ich bin weder Psychologin, noch ein Mann. Ich schreibe als Frau, als Mutter und als Feministin.