Angenehm scheint mir die Herbstsonne auf die Haut, während ich vorbei an der Polizeistation spaziere. Mir entgegen kommen hauptsächlich Jugendliche, meines Erachtens Schüler, die wohl gerade in der Mittagspause sind. Die meisten lachen, lassen mich Happen ihrer Gespräche erhaschen. Gespräche über die Kurse, Klamotten, Lehrer, Mitschüler. Unbesorgte Gespräche. Und doch denkt man die Probleme der Welt zu kennen, denn außer seinen eigenen existieren ja keine. Ich lächle nostalgisch.

Die Straße, die ich gemütlich entlang schlendere führt in Richtung Theater. Da der Busfahrer wie ein Verrückter gefahren ist, bin ich früh dran. In Paris ging ich schneller als jetzt. In Paris bewegt sich alles schnell, aber das ist jetzt vorbei. Schon lange eigentlich, aber sobald ich durch die Straßen einer Stadt spaziere, muss ich an genau diese Stadt denken. Die Stadt der Liebe, Stadt des Erfolges, der Reichen. Reich muss man sein, um dort wirklich leben zu können, sonst überlebt man nur. Trotzdem huscht ein wehmütiges Lächeln über mein Gesicht, als ich an diese Zeit denke. Und ich gehe automatisch schneller. Ich atme tief durch und erinnere mich daran, dass ich keine Lust habe fünfzehn Minuten auf die anderen zu warten. Verlangsame meinen Gang absichtlich.

Mein Blick schweift über Vitrinen von Geschäften, einem Reisebüro. Natürlich interessieren sie mich nicht besonders. Diese Straße ist eine der wenigen, in denen sich so gut wie keine „Zu vermieten“ – Schilder befinden. Seit der Eröffnung des großen Einkaufszentrums hinter dem Bahnhof schließen die Geschäfte der Innenstadt nämlich nach der Reihe. Zumindest hat man mir das gesagt, besagtes Einkaufszentrum war nämlich vor mir da. So, wie die Krise vor mir da war und die vielen Menschen in meinem Alter, deren weinende Kleinkinder wie tapsende Kätzchen hinter ihnen her laufen. Durch enge Gassen, die ich immer noch mit Fußgängerzonen verwechsle, obwohl man meist in beide Richtungen fahren darf.

Mit den Gebäuden, die sie umgeben, bildet die Allee das Stadtzentrum. Im Sonnenlicht kann besagte Allee sehr einladend aussehen. Vor allem im Sommer, wenn anstatt der Einheimischen, die oft etwas zu tief ins Glas schauen, Touristen durch die Straßen spazieren. An den Seiten des länglichen Marktplatzes befinden sich enorme Laubbäume, parallel zu zwei Straßen, jeweils auf der einen, wie auf der anderen Seite. Am nördlichen Ende baut sich majestätisch das Theater auf. In seiner Schönheit lässt es erahnen, dass die Stadt wirtschaftlich gesehen bessere Zeiten gekannt hat. Ich komme von der Seite des großen Gebäudes, so, dass ich auf den Beginn der Allee zu spaziere.

Tatsächlich ist der Ort für die Manifestation gut ausgesucht. Aufgrund des erhöhten, über mehrere Stufen erreichbaren Platzes vor der Eingangstür, müssen uns die anderen Bewohner einfach bemerken. Von der Seite sehe ich nicht viel davon, was sich vor dem Theater abspielt. Während ich die Ampel überquere, recke ich meinen Hals, um die Leute, die anscheinend bereits davor warten, genauer zu sehen. Seltsam, ist die Pünktlichkeit doch nicht unbedingt die Stärke der Franzosen. 13H14 zeigt die Uhr meines Handys. Als Beginn wurde 13H30 angekündigt.

Als ich um die Ecke biege, blicke ich verwundert auf etwa dreißig, in einem Kreis stehende Menschen. Überrascht stelle ich mich in eine freie Lücke. Dann lasse ich meinen Blick über die Anwesenden schweifen. Die meisten sind zwischen vierzig und fünfzig, wie das auch bei den kulturellen Veranstaltungen in der Region, die ich bisher besucht habe, immer der Fall war. Selten Leute in meinem Alter. Ein paar der Personen halten sich an den Händen, andere sind in Gespräche mit ihren Nachbarn vertieft. Scheinbar hat das Schweigen noch nicht begonnen. Eine brünette Frau nimmt mein Auftauchen mit Freude wahr und lächelt in meine Richtung. Ich lächle zurück, immer noch verwundert wieso schon so viele Leute da sind.

Meine Kreisnachbarin, eine kleine, kurzhaarige Frau, klärt mich darüber auf, dass die Manifestation bereits seit 45 Minuten im Gange ist. „Eine Stunde schweigen, das ist mir viel zu lange, deshalb rede ich jetzt.“, kichert sie. Ihr graues Haar schimmert in der Sonne. Ich nehme stark an falsch informiert gewesen zu sein. Kurz ziehe ich verärgert meinen linken Mundwinkel nach hinten. Dann beschließe ich die Situation schlicht und einfach auf mich wirken zu lassen. Ich atme tief ein, nach unten, in den Bauch. Ein bisschen zu warm ist die Herbstluft, um wirklich das Ende des Sommers anzukündigen. Mir gegenüber befindet sich ein großer, grauer Altbau. Gebäude an Gebäude an einander geklebt, wie in den meisten Städten. Eigentlich auch in den Dörfer, weswegen das Hochwasser dann nirgendwo abfließen kann - außer in unserem Schlafzimmer. Kurz besinne ich mich darauf, weshalb ich eigentlich da bin. Während ich ein paar lächelnde, ein paar hoffnungsvolle und ein paar ausdruckslose Gesichter ansehe, kommt in mir ein Gefühl hoch, das sich ein bisschen wie Zusammengehörigkeit anfühlt.

Ein Mitarbeiter der Flüchtlingshilfe reißt mich aus meinen Gedanken, indem er sich in die Mitte des Kreises stellt. Er kündigt an, dass wir nun eine Menschenkette machen werden, um schweigend die Allee nach unten zu spazieren. Er spricht noch eine Weile weiter, ich verstehe allerdings nicht was, da seine Stimme im Lärm der vorbeifahrenden Autos untergeht. Auch die Frau neben mir runzelt fragend die Stirn. Dann spazieren wir los, allen voran der ältere Herr mit weißem Bart, der eben in der Mitte des Kreises gesprochen hat. Mit beiden Armen hält er ein Plakat hoch, auf dem, wie ich annehme, steht, weshalb wir hier mehr oder weniger schweigend spazieren. „Madame, kann ich Ihnen die Hand geben?“, frage ich eine sympathische, grauhaarige Frau, die lächelnd „Aber sicher.“, antwortet. Mir fällt auf, dass die meisten anderen sich bereits zu kennen scheinen – anscheinend sind viele in kleinen Gruppen oder zu zweit gekommen. Eine weitere Person, diesmal eine brünette etwa vierzigjährige, nimmt schweigend meine linke Hand und beginnt an ihr zu ziehen. Die Leute ganz vorne gehen wohl ein bisschen zu schnell für uns, die uns gerade erst auf den Weg machen. Dadurch bin ich gezwungen auch die Grauhaarige in meine Richtung zu zerren.

In der Mitte der Allee findet heute der Blumenmarkt statt, von dem aus uns mehrere Händler neugierig zusehen. Sie schweigen auch, zumindest während sie uns von oben bis unten mustern. Die Gäste der Restaurants zu unserer rechten scheinen uns weniger zu beachten. „Wir könnten auch die anderen Leute dazu auffordern mitzugehen!“, ruft eine Frau mit greller, hoch motivierter Stimme hinter mir. Meine Menschenketten-Nachbarin und ich zweifeln diese Idee kurz an, da wir der Meinung sind, dass die wenigsten Restaurantgäste ihren Teller stehenlassen und sich ohne zu bezahlen bei uns einbringen möchten. „Psssscht, das ist doch ein Schweigemarsch!“, rufen uns ein paar lachende Kinder zu, die auf Fahrrädern vorbeifahren. Bevor wir etwas erwidern können, sind sie auch schon verschwunden. Ich könnte und möchte ihnen auch gar nicht böse sein unsere Manifestation nicht ernst zu nehmen. Wir kommen an ein paar jungen Männern mit Gitarre vorbei, die sich am Vortag genau am selben Fleck befunden haben. Vielleicht sollten wir die auffordern mitzukommen. Ein bisschen Musik würde so einen Schweigemarsch vielleicht auflockern. Wieder spüre ich ein ungeduldiges Ziehen in meiner linken Schulter.

„Woher kommen Sie denn?“, fragt mich die grauhaarige Dame. Während ich spreche, drehe ich mich hin und wieder zu ihr um, aber nicht zu oft, um mitzubekommen was vor mir passiert. Nachdenklich nickt die Kreisnachbarin, wobei ihre Lachfalten aus dem gebräunten Gesicht verschwinden. Ihr weißes Haar passt übrigens gut dazu. Zu dem gebräunten Gesicht, nicht zu der ernsten Mimik. „Genau deshalb ist es besonders wichtig, dass wir hier heute zahlreich anwesend sind. Und natürlich um dem Bürgermeister ein Zeichen zu senden.“ Seine interessante Art ethnische Studien an Schulen und Kindergärten durchzuführen, habe ich mit ziemlicher Sicherheit bereits in einem anderen meiner Blogeinträgen erwähnt. Falls ich mich irren sollte, dürft ihr mich natürlich kontaktieren und ich kläre euch gerne darüber auf. Vor kurzer Zeit hat der gute Herr wieder für Schlagzeilen gesorgt. Diesmal ging er, umringt von bewaffneten Polizisten, in ein eher ärmliches Viertel. Dort gibt es hauptsächlich Gemeindebau-Wohnungen. Jedes Mal, wenn ich an der Siedlung vorbeispaziere, treffe ich auf selbst ernannte Mechaniker, die mitten auf dem Parkplatz Autos reparieren, Menschen verschiedenster Kulturen. Sonntags gibt es einen großen Markt, der eine Spur der kleinen Straße, die zur Post führt blockiert. Ansonsten ist das eher ein ruhiges Viertel. Laut einer Bewohnerin, die auf Canal + interviewt wurde, steht der Großteil der Gebäude leer. In ihrem Wohnhaus (einem Hochhaus) beispielsweise gibt es nur 5 bewohnte Wohnungen. So kam der Tag, an dem der Bürgermeister, geschmückt mit seiner blau-rot-weißen Bürgermeisterschleife, die in diesem Viertel untergebrachten Flüchtlinge besuchte. Begleitet wurde er von mehreren Polizisten mit gut sichtbaren Feuerwaffen und einem Übersetzer. Ich möchte mich natürlich nicht über ihn lustig machen, aber nebenbei bemerkt übersetzte dieser werte Herr vom Französischen ins Englische. Auf dem Video gut erkennbar, baut sich der Bürgermeister vor einem syrischen Flüchtling auf und sagt ihm mehrere Male „Sie sind nicht willkommen in dieser Stadt. Verlassen Sie unsere Stadt, oder die Polizei wird Sie aus dieser Wohnung verbannen.“ Wie ein Reporter von Canal + bald darauf herausfinden konnte, versteht der Flüchtling im Video kein Englisch und hat erst durch Diskussionen mit anderen Menschen aus dem Viertel herausgefunden, was der Bürgermeister überhaupt von ihm wollte. Dazu kommt, dass es keinesfalls in dessen Macht steht, Flüchtlinge aus einer Gemeindebauwohnung zu werfen. Abgesehen davon wurden diese von der zuständige Stelle akzeptiert.

Wieder werde ich aus meinen Gedanken gerissen, diesmal, weil wir am anderen Ende, vor der großen Statue ankommen. Diese stellt den Namensgeber der Allee dar, einen verstorbenen General. Als wir nun alle stillstehen und nichts weiter passiert, fällt mir auf, dass nur ein Fotograf anwesend ist, der von der Flüchtlingshilfe zu sein scheint. Zumindest duzt er den Graubärtigen. Ich weiß nicht, ob wir hier heute wirklich ein Zeichen setzen. Eine Bekannte meinte gestern solche Aktionen nützten sowieso nichts. Ob man dann schweigend zuhause sitzen und seinen Mund halten sollte, habe ich sie gefragt. „Nein, nein… das ist… eh gut, dass du so… solche Sachen… machst.“ Hm, ja. Ich, aber sie selbst dann wohl doch eher nicht.

Wir kommen am Ende der Allee an, wo uns der Weißbärtige darauf aufmerksam macht, dass es abends ein Zusammentreffen von Einheimischen und Flüchtlingen gibt. Davon habe ich schon gehört, muss aber leider arbeiten. Kurz schauen die verschiedenen Menschen einander an, bis wir zu verstehen beginnen, dass die Kette nicht aufgelöst werden hätte sollen, da wir zurück zum Theater spazieren. Wie zuvor halten der erste und der letzte der Menschenkette mit beiden Händen jeweils ein Plakat nach oben. Wie zuvor erkenne ich nicht, was darauf geschrieben steht. Ein dunkelhäutiger Junge auf seinem Fahrrad fragt uns im Vorbeifahren was wir denn da machen. „Wir zeigen Solidarität mit den Flüchtlingen.“, meint ein älterer Mann, der seit kurzem locker meine rechte Hand hält. Ich bin nicht sicher, ob der Junge in seinem Alter bereits das Wort „Solidarität“ versteht, vor allem, da er seinen Kopf zur Seite dreht und schweigend davon fährt. „Also ich kümmere mich lieber um die Franzosen.“, erwidert eine kurzhaarige Passantin mit Sonnenbrille schnippisch. Dabei geht sie auch, anscheinend so schnell wie möglich, in eine andere Richtung. „Sicher, den Franzosen geht es seit dem Krieg ja besonders schlecht.“, antworte ich ihr. Doch da ist sie schon über alle Berge und wir zurück beim Theater, Die hohen Stufen steigen wir nach oben und bilden auch dort wieder einen Kreis. Der Weißbärtige bedankt sich. Kurz unterhalte ich mich mit einer Frau von einer Bürgerbewegung, die mir ihre Mailadresse aufschreibt. „Dann lade ich Sie ab jetzt zu allen Veranstaltungen und Demos ein! Und die Mailadressen von der Flüchtlingshilfe schick ich Ihnen auch gleich. Da können Sie dann bei der Essensausgabe helfen, oder – keine Ahnung, die werden Ihnen dann schon irgendwas vorschlagen…“, meint sie mit strahlenden Augen. Zufrieden nickend stecke ich den Zettel in meine Tasche. Zu dem Zeitpunkt beginnt sich die Menge aufzulösen. Leute geben sich Küsschen, andere gehen schweigend. Ein paar heben zum Gruß die Hände. So schnell wie das alles gegangen ist, kann ich vielleicht sogar mit demselben Busticket zurück fahren. Natürlich kann es stimmen, dass es nichts bringt Händchen-haltend um die Blumenstände zu spazieren. Aber wer hat denn behauptet das sei alles?

1
Ich mag doch keine Fische vergeben
Meine Bewertung zurückziehen
Du hast None Fische vergeben
6 von 6 Fischen

bewertete diesen Eintrag

fischundfleisch

fischundfleisch bewertete diesen Eintrag 14.12.2015 23:17:14

3 Kommentare

Mehr von Tharina