Dies ist ein Text, den der libanesisch-armenische Politikwissenschaftler Yeghia Tashjian 2016 im Onlineblog der englischsprachigen Nachrichtenseite "The New Arab" veröffentlichte. Er erzählt darin über den Völkermord an den Armeniern während des Ersten Weltkriegs aus der Sicht seiner Familie. Der Text wurde von mir übersetzt und, in Absprache mit Yeghia, um einige Zeilen und Informationen ergänzt.

Der Genozid an den Armeniern jährt sich heute zum 105 mal.

Vor einer Woche besuchte ich einen Blumenhändler in der Mar-Mikhael-Straße in Beirut, um Blumen für meinen Balkon zu kaufen. Nachdem ich mich eine Weile in dem Geschäft umgesehen hatte, entschied ich mich dazu, eine Pflanze ähnlich einer Dahlie zu kaufen.

Ich war glücklich, und auch ein wenig aufgeregt: Mein Vater hatte sich gerade von einer Krankheit erhohlt und ich wollte ihn damit überraschen. Ich pflanzte sie in einen großen Topf auf meinem Balkon um. Als ich früh am nächsten Morgen aufstand, sah ich, daß die Stängel matschig und die Wurzeln nicht fest waren. Ich war traurig und enttäuscht. Meine Mutter riet mir, sie wegzuwerfen, aber ich wollte die Hoffnung nicht aufgeben und goß die Pflanze täglich. Nach einer Woche war sie tatsächlich wieder grün und ihre Knospen begannen zu wachsen.

Entwurzelt

Die Geschichte dieser Blumen ähnelt der Geschichte meiner Familie und unserer Nachbarn.

Mein Großvater, Samuel Tashjian, war der einzige Überlebende der Tashjian-Familie in Gaziantep während des Genozids an den Armeniern. Die Stadt in der südlichen Türkei, war bekannt für ihre Händler, während des Mittelalter gehörte sie sogar zum Armenischen Königreich von Kilikien, welches nördlich von Syrien lag. Wegen ihrer bemerkenswerten Geschicklichkeit im Handel, nannten die Europäer die Einwohner Gazianteps auch „armenische Juden“. Die Armenier von Gaziantep sprachen zwar Türkisch, bewahrten aber interessanterweise trotzdem ihre ererbten Traditionen und Bräuche.

Samuel Tashjian (Stehend, Mitte) mit seinen Eltern und Geschwistern, 1911 in Gaziantep

Samuel wuchs in einem traditionellen, feudalen armenischen Elternhaus auf. Als der Erste Weltkrieg ausbrach, war er skeptisch bezüglich der Zukunft. Da er auf dem „Protestant Central Anatolia College“ Deutsch gelernt hatte, rekrutierte ihn die Osmanische Armee, um als Übersetzer für die Deutschen zu dienen. Die Deutschen nannten ihn „Shami“.

Am 1. April erfolgte der Befehl zur Evakuierung der Armenier von Gaziantep. Mein Großvater wußte, daß es eine Falle war, er hatte die Flüchtlingskarawanen, die sich Richtung syrischer Wüste bewegten, bereits gesehen. Dort in Deir-Ez Zor, der ostsyrischen Stadt am Euphrat, fand die armenische „Endlösung“ statt. In der Umgebung der Stadt wurden Konzentrationslager errichtet. Heute befindet sich eine Erinnerungskirche nahe Deir-Ez Zor, die allerdings seit 2014 teilweise zerstört ist, als IS-Kämpfer sie in die Luft sprengten.

Mein Großvater wurde Zeuge der Exekutionen von armenischen und assyrischen Wehrpflichtigen, die in der Osmanischen Armee dienten. Schockiert traf er die Entscheidung, aus der Osmanischen Armee zu desertieren und nach Gaziantep zurückzukehren, um nach seiner Familie zu suchen.

Die Armenier, die sich weigerten an einem Todesmarsch zu sterben, bewaffneten sich und leisteten Widerstand. Beispielhaft seien hier der Widerstand am Mosesberg im südtürkischen Hatay und in der südöstlichen Provinz Van erwähnt. Samuel und viele andere hofften, daß die Franzosen ihnen helfen würden, doch dies passierte nicht. Die Französische Armee erreichte Gaziantep erst 1918. Die Armenier waren zu diesem Zeitpunkt schon vertrieben oder getötet. Mein Großvater flüchtete und hoffte, eines Tages zurückkehren zu können. Während der Flucht heiratete er meine Großmutter Nuritsa, die ebenfalls aus Gaziantep stammte. Gemeinsam schafften sie es, über Syrien nach Beirut zu gelangen.

1923 wurde der Vertrag von Lausanne unterzeichnet, 1924 trat er in Kraft; Er garantierte den Armeniern die Staatsbürgerschaft der Länder, in denen sie Zuflucht fanden. Samuel sah letztlich ein, daß eine Rückkehr nicht mehr in Frage kam, daher kaufte er ein Haus in Achrafieh, dem christlich geprägten Stadtteil im östlichen Beirut und pflanzte Blumen in seinem Garten an. Der „Garten“ war der Libanon, und die „Pflanzen“ seine Kinder und Enkelkinder.

Nakba

Naim wurde in Haifa geboren. Er gehörte zu einer bekannten griechisch-orthodoxen Familie von Intellektuellen und sein Sohn Suheil, erzählte uns oft die Geschichte der palästinensischen Nakba. Er erzählte uns vom Haus seines Vaters, seines Gartens und von den Treffen palästinensischer Intellektueller im Salon. Plötzlich färbte sich sein Gesicht rot und Tränen liefen hinab.

Nachdem er tief eingeatmet hatte, setzte er fort: „Es war im April 1948, der 20. oder 21., wir hörten die Kämpfe, die Leute waren in Panik und die Lage war hoffnungslos. Sie erzählten uns, daß Haganah-Milizen vorrückten und arabische Viertel einnahmen. Die Leute flüchteten und ließen alles zurück. Ich erinnere mich an meinen Freund Issa, er war in meinem Alter, Acht ungefähr, er schrie und weinte.. Ich begann ebenfalls zu weinen.

Mein Vater stellte eine kleine Gruppe an Milizionären auf, um die Stadt zu beschützen, während die Frauen mit ihren Kindern Richtung Norden flüchteten. Mein Vater und seine Kameraden hofften, daß die „Arabische Befreiungsarmee“ Verstärkung schicken würde; Sie kämpften bis zum zweiten Tag. Aber die Situation war aussichtslos. Die Kämpfer zogen sich zurück. Wir verloren unser geliebtes Haifa. Wir verloren Palästina. Wir waren Flüchtlinge. Die Araber haben uns verraten, sie haben Palästina verraten.“

Für Naim war das Leben an diesem Punkt nicht vorbei. Er siedelte sich mit seiner Familie in Bourj Hammoud an, jenem Vorort östlich von Beirut, der von armenischen Flüchtlingen gegründet wurde. Als ich Suheil einmal fragte, was der Grund dafür war, daß sein Vater sich ausgerechnet für Bourj Hammoud entschieden hatte, gab er mir folgende Antwort: „Bourj Hammoud war von Armeniern bewohnt, meinem Vater war klar, daß diese beiden Völker einen gemeinsamen Schmerz teilten, der Tief in ihrer Erinnerung verwurzelt ist. Dadurch fühlte er sich sicher.“

Krieg und Frieden

Während des Libanesischen Bürgerkriegs, beschützten armenische Milizen Naims Familie. Als Suheils Bruder Georges von den maronitisch-christlichen Milizen der Phalange-Partei entführt wurde, stellten die Armenier seine Freilassung sicher und brachten ihn zu seiner Familie zurück.

Als ich diesen Artikel schrieb, wandte ich mich meiner Pflanze zu, die schon Blumen besaß. Samuel und Naim wurden entwurzelt, so wie ich diese Pflanze entwurzelt habe. Aber sie weigerten sich, aufzugeben, sie verloren fast alles - Geld, Familie, ihre Häuser - nur ihren Glauben nicht. Sie hatten einen starken Willen, sie pflanzten ihr Saatgut. Jetzt sind wir ihre Blumen.

Wie der armenisch-amerikanische Schriftsteller Wiliam Saroyan sagte: „Die Macht dieser Erde will ich sehen, die diese Rasse zerstören kann. Diesen kleinen Stamm unbedeutender Menschen, die all ihre Kriege gekämpft und verloren haben. Deren Strukturen zerbrochen sind, deren Bücher ungelesen sind, deren Musik ungehört bleibt und deren Gebete nicht mehr erhört werden. Na los, zerstört Armenien. Mal sehen ob ihr es schafft. Schickt sie in die Wüste, ohne Wasser und Brot. Brennt ihre Häuser und Kirchern nieder. Und dann sollt ihr sehen, wie wir wieder lachen, singen und beten. Denn wenn irgendwo auf der Welt zwei Armenier aufeinandertreffen, dann werden sie ein neues Armenien aufbauen“.

Wenn mich jemand fragt, ob ich ein Libanese oder ein Armenier bin, dann werde ich ihm die Geschichte der „Blume“ erzählen... die Geschichte des gemeinsamen Leidens, das uns gelehrt hat, niemandem zu vertrauen, außer unserer Nation.

Originaltext: https://english.alaraby.co.uk/english/blog/2016/4/21/a-shared-agony-from-aintab-to-haifa

Yeghia Tashjian (30) studierte Politikwissenschaften und Internationale Beziehungen an der armenischen Haigazian Universität in Beirut und an der Amercian University of Beirut. Als Autor ist er ua. für die libanesisch-armenische "Aztag" Zeitung tätig. Zudem arbeitet er für den Radiosender "Voice of Van" in Beirut. Er steht der "Armenischen Revolutionären Föderation" nahe.

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