"Die Hisbollah hat interessanterweise auch christliche Anhänger" Rahim Taghizadegan im Interview

Vor einiger Zeit traf "The Levantine Patriot" den österreichisch-iranischen Privatgelehrten und Leiter des "Scholarium"-Instituts, Rahim Taghizadegan zu einem Gespräch über den Libanon, den Liberalismus und die Hisbollah.

Der Nahe Osten gilt vielen Menschen nicht gerade als liberales Paradies und sie würden es auch nicht erwarten, ausgerechnet in dieser Region auf freiheitliche Staaten zu treffen. Rahim Taghizadegan verortet jedoch ausgerechnet in dieser Region ein, verglichen mit vielen europäischen Ländern, freiheitsfreundlicheres Land, nämlich den Libanon – wenngleich mit vielen Einschränkungen. Das kleine Land am Mittelmeer und mit seinen 18 verschiedenen Religionsgemeinschaften schafft es für gewöhnlich nur durch syrische Flüchtlinge und Terrorismus in die Schlagzeilen, dabei besitzt das Land der Phönizier nicht nur eine spannende Geschichte, sondern kann auch in der Gegenwart mit so mancher Überraschung aufwarten. (Das Interview erfolgte mündlich, diese Abschrift ist nur eine grobe Wiedergabe des Gesprächs.)

TLP: Rahim, du hast immer wieder angesprochen, dass der Libanon eines der anarchokapitalistischsten Länder dieser Welt ist, das du kennst. Wie kommst du zu dieser Einschätzung ?

Rahim Taghizadegan: Also wenn ich das so gesagt habe, dann habe ich das ein bisschen paradox gemeint. Von Liberalität ist natürlich auch der libanesische Staat weit entfernt. Was es aber immer wieder im Nahen Osten, und insbesondere im Libanon, gab und noch gibt, ist eine Ineffektivität staatlicher Macht, die einige Lücken läßt. Bis vor nicht allzu langer Zeit hatte das Land gar keine funktionelle Regierung, das war auch eine angenehme Phase. Die meisten aber warteten ungeduldig auf geklärte Verhältnisse.

Der Libanon hat jetzt wieder eine neue Regierung, die zwar nicht so effektiv ist wie die Deutsche, aber immerhin war es eine ihrer ersten Maßnahmen, die Steuern einzutreiben und zu erhöhen.

Also wenn es Freiräume für bürgerliches, unternehmerisches Engagement gibt, dann trotz des Staates. Das beginnt schon sehr früh, nämlich dass das Libanon-Gebirge Christen und Drusen als Ort diente, an dem sie sich vor dem Zugriff des Osmanischen Reiches schützen konnten. Dies ist vergleichbar mit den Freiräumen, die die Alpen einst geboten hatten und die sich in der Schweiz ein bisschen gehalten haben. Deswegen gibt es hier eine interessante libanesische Entwicklung parallel zur schweizer Entwicklung. Es ist aber eine negative Liberalität, nämlich dass sich hier die Möglichkeit bot, relativ unbeschadet und ohne Plünderungen zu überleben.

TLP: Eine relative Ineffektivität des Staates existiert auch in Österreich, vor allem im Vergleich zu Deutschland. Welche Unterschiede bezüglich der staatlichen Einmischung gibt es noch zwischen Deutschland, Österreich, Europa im allgemeinen und dem Libanon ? Im Gegensatz zu Österreich existiert dort keine Wehrpflicht. Auch die Steuerstruktur ist anders.

Rahim Taghizadegan: Ja, also bis vor nicht allzu langer Zeit haben nur relativ wenige Libanesen Steuern und Stromrechnungen bezahlt. Neben den geographischen Gegebenheiten ist der Staat auch durch die Aufteilung in die unterschiedlichen Religionsgruppen nicht sehr effektiv, dazu kommt die Korruption im positiven Sinne, nämlich abseits des staatlichen Zugriffs zu operieren.

Das Problem dieser Ineffektivität und Aufteilung ist aber, dass sie auf einer Ineffektivität der Gesellschaft beruht. Die Vertrauensstrukturen sind nicht sehr ausgeprägt und das schränkt das Unternehmertum ein, auf relativ kleine und flexible Projekte. Also man kann im Libanon steuerfrei Unternehmer sein, aber man findet wenig geeignetes Personal, man findet wenig langfristig haltende Strukturen, Abmachungen oder ähnliches, mit denen man etwas großes, Nachhaltiges aufbauen könnte. Alles, was Richtung Industrieunternehmen geht, wo sich eine Rentabilität nach Jahrzehnten bemißt, ist relativ schwierig dort.

In diesem Sinne ist es kein Utopia des freien Wirtschaftens, aber wenn man das vorzieht, lieber mehr Schlampigkeit und Unsauberkeit zu haben, das heißt also die positiven Seiten einer effektiven Verwaltung und ineffektiven Gesellschaft, dann wird das mehr als kompensiert dadurch, dass es eben wesentlich mehr Freiheiten und Möglichkeiten gibt, auch gesetzlichen Vorgaben auszuweichen.

Diese Haltung führt allerdings auch zu einer flexibleren Grundhaltung, die meisten Libanesen sind (Über-)Lebenskünstler und sehr auf eher kleinräumige, Familien,- und Sippenbezüge orientiert und haben wenig positive Loyalität zu dem Staat Libanon, was ich für günstig halte, da Staaten zu den größten Massenmördern der Geschichte zählen.

TLP: Einer der Akteure im Libanon ist die „Hisbollah“ („Partei Gottes“), die die Familien gefallener Kämpfer mit Sozalleistungen unterstützt. Hier stellt sich die Frage, wie das Sozialsystem im Libanon im allgemeinen funktioniert, von staatlicher Seite gibt es nur im gesundheitlichen Bereich Zuschüsse.

Rahim Taghizadegan: Also das Gesundheitssystem ist weitgehend „Cash“ – und basiert auf dem Wettbewerb von Medizinern, da es marktwirtschaftlich orientiert ist. Meine bisherigen Erfahrung damit waren exzellent, es gab eine relativ kostengünstige und kompetente medizinische Betreuung. In der Regel wenden sich die Libanesen auf Empfehlung an den Arzt ihres Vertrauens.

Darüber hinaus gibt es fast keine staatlichen Sozialleistungen, die Religionsgruppen leisten hier einen Beitrag. In der Tat tut das die Hisbollah, die als Staat im Staat agiert, für die eigenen schiitischen Gefolgsleute und es gibt durchaus auch christliches, karitatives Engagement. Im wesentlichen ist es aber die Familie, die in Notsituationen Hilfe gewährleistet oder die Diasporagemeinschaft, die Geld an ihre Familienmitglieder nach Hause schickt.

Das hat Vorteile, insbesondere dabei, dass es keinen Pull Faktor in der Zwanderung gibt. Der Libanon hat per Pro-Kopf Rate eine der höchsten Flüchtlingsquoten weltweit, würde Österreich auf solche Zahlen kommen wäre der Bürgerkrieg längst da. Im Libanon geht das ganze relativ gesittet vonstatten, da den Syrern bewusst ist, dass sie dort zu niedrigen Gehältern zum Beispiel als Erntehelfer arbeiten können und in selbstkonstruierten Slumsiedlungen wohnen können. Das nützen sie auch, die Chance in dem Land echte Flüchtlinge zu treffen ist groß, da es auch näher liegt und es relativ günstig ist, dorthin zu gelangen. Motive, wie zu Sozialhilfe zu kommen, gibt es nicht.

TLP: Kommen wir zur Frage des Terrors. Wenn man den Libanon mit dem Irak oder der Türkei vergleicht, so fällt auf, dass nur wenige Anschläge stattfinden. 2016 gab es einen versuchten Anschlag im christlichen Dorf al-Qaa, bei dem vier Menschen ums Leben kamen, im Jänner wurde ein Terrorattentat in einem Restaurant in Beirut verhindert. Den letzten großen Anschlag gab es im November 2015.

Rahim Taghizadegan: Das war schon mal anders. Der Wahnsinn des Nahen Ostens hat sich im Libanon schon angekündigt, die großen Schlachtfelder liegen heute aber anderswo.

Der Islamische Staat und die al-Nusra-Front haben versucht den Konflikt in das Land zu tragen, allerdings sind die meisten Libanesen bürgerkriegsmüde.

Zur damaligen Zeit waren die Schiiten ein starker Akteur, die aber schon erreicht haben, was zu erreichen ist. Dementsprechend gering ist die Motivation zu Terror. Heute sind es allenfalls sunnitische Anschläge oder, eine andere Möglichkeit, man versucht durch punktuelle Attentate auf Politiker zu verhindern, dass etwas ans Tageslicht kommt oder Einflulßnahmen zu unterbinden.

Es ist also im wesentlichen der sunnitische Islamismus, der allerdings seine Schlachtfelder in Syrien und im Irak hat. Deswegen ist es im Libanon ruhiger.

TLP: Die Hisbollah hast du bereits erwähnt. Stellt sie eine Gefährdung für den libanesischen Staat und für die Freiheit, die man im Libanon hat, dar ?

Rahim Taghizadegan: Als eine Gefahr für den libanesischen Staat: Ja, natürlich. Es ist ein bewaffneter Staat im Staat, mit sämtlichen Strukturen eines Staates von Verteidigung bis zum Sozialsystem. Damit stellt sie aber auch einen Bremskeil für eine zentralistische Staatsentwicklung und einen Garant für die Ineffektivität dar. In diesem Sinne sehe ich es durchaus positiv, auch ist ein Umwandlungsprozeß der Hisbollah zu einer politischen Partei im Gange.

Das hat gute wie schlechte Seiten: Im schlimmsten Fall wird sie wie eine gewöhnliche Partei und dann geht es nur noch ums Köpfe-zählen der Demokratie. Dadurch könnten Konflikte erst recht wieder aufgeladen werden. Besser gefällt mir da die libanesische Lösung. Die schiitischen Siedlungsgebiete sind noch am geschlossensten, die hauptsächlich im Süden liegen. Man kann es als eine Föderation sehen, bei der der libanesische Staat obendrauf sitzt und die Hisbollah eine Art Regionalverwaltung darstellt. Das halte ich für positiver, auch weil der schiitische Extremismus in eine defensive Rolle gedrängt wurde, die wesentliche Bedrohung ist heute der Wahabismus. Das war mal anders, wesewegen es heute, verständlicherweise, nachwievor Vorbehalte gibt.

TLP: Wie sehen die anderen Religionsgemeinschaften die Hisbollah, insbesondere die Christen des Landes ?

Rahim Taghizadegan: Gespalten. Es gibt interessanterweise Christen, die Fans der Hisbollah sind. Sie hat sich im Libanon dadurch einen großen Ruf erworben, dass sie die israelische Besatzung beendet hat und so, je nach Interpretation, die Unabhängigkeit des Landes wiederhergestellt hat. Dies hat weit über das schiitische Lager hinaus zu Anerkennung geführt.

Interessanterweise hat ein großer Teil der Christen skeptisch bis negativ auf die israelischen Versuche reagiert, Verbündete im Libanon zu gewinnen, da sie befürchteten, dass diese Versuche das Zusammenleben zwischen den Christen, Drusen und Moslems gefährden könnte. Dieses war nie perfekt, aber Israel war in der Tat der Stein des Anstoßes für den Bürgerkrieg. Es fand eine Entzweiung statt, ein Teil der christlichen Libanesen schlug sich auf die Seite Israels, andere auf die Gegnerische. Deswegen gibt es schon seit dieser Zeit Allianzen zwischen Christen und der Hisbollah. Nichtsdestotrotz sind viele moderne Libanesen der Hisbollah skeptisch gegenüber eingestellt, da sie die Ideologie der iranischen Islamischen Revolution vertritt. Damit erwecken sie den Eindruck einer von außen gesteuerten Gruppierung.

Noch dazu sind die meisten Schiiten aus der Unterschicht, sowie volksfromme Menschen mit hoher Fertilitätsrate und einem gewissen Aufhetzungspotential, wobei man nicht so einfach glaubt, dass aus diesem Lager ein moderner, säkularer Staat unterstützt wird.

Im besten Falle kann man damit leben, dass es diese Gespaltenheit gibt und das es eine friedliche Gespaltenheit ist. Es ist durchaus auch beeindruckend, wie friedlich das laufen kann, wenn man sich Beirut so ansieht, findet man von Nord nach Süd das Hedonistischste, was man nur finden kann, und es existiert neben dem Gesellschaftskonservativsten, was der Nahe Osten zu bieten hat. Das halte ich eher für ein Friedensrezept, als ein Versuch sich in der Mitte zu treffen, sich zu integrieren in einem Staatsgebilde mit einer Identität.

TLP: Die Schiiten stellen 30 – 35% der Bevölkerung des Libanons. Hat die Hisbollah überhaupt realistische Möglichkeiten und Ambitionen, den Zentralstaat zu übernehmen ?

Rahim Taghizadegan: Nein, eher nicht, sie hat natürlich die Ambition Macht zu halten, was im wesentlichen bedeutet, Autonomie zu halten, würde ich sagen. Allenfalls noch als Säule des Schiitentums zu fungieren und diese Einflußsphäre nicht aufzugeben. Die Schiiten haben, wie ich schon erwähnt habe, eine relativ hohe Fertilität, die Zuwachsraten sind groß. Ob die 35% aktuell sind, muss ich gestehen, weiß ich nicht. Es hat schon seit langer Zeit keinen Zensus mehr gegeben, daher sind alles nur Schätzungen, man weiß aber, es ist eine stark wachsende Bevölkerungsgruppe und es nicht ausgeschlossen ist, dass sie irgendwann einmal mehr als 50% stellen. Ob daraus ein Anspruch entsteht, einen schiitisch dominierten Libanon zu schaffen glaube ich eigentlich nicht, weil die Ausrichtung momentan eher defensiv ist, so dass es mir momentan wenig Sorgen macht.

Sollte allerdings die Regierung versuchen, effektiver zu agieren und das auf Kosten der Hisbollah geht, zB. indem man ihre Entwaffnung vorantreibt, da tatsächlich eine Armee innerhalb des Staates besteht, dann könnte sich das hochschaukeln. Dies wäre weder im Sinne der Christen noch der Schiiten.

TLP: Wie gefährdet ist der Libanon durch die Ideologie des Demokratismus und ihrem globalen Anspruch ? Kann eine Demokratie westlicher Art das land gefährden oder gar zerstören ?

Rahim Taghizadegan: Ja, wenn man Demokratismus so interpretiert, dass die Zahl der Köpfe alles legitimiert, dann wird es zum Wettlauf kommen, wer hat mehr als 50% der Bevölkerung, wenn es nicht gelingt ein homogenes Staatsvolk zu schaffen. Das war das Projekt von Fouad Chehab, der in den 60er bis 70er Jahren der Modernisierung versucht hat, ein einheitliches, demokratisch regierbares Staatsvolk mit gleichen Werthaltungen aber unterschiedlichen Parteien zu schaffen. Dieses Projekt ist völlig nach hinten losgegangen. Es hat den Boden für den Bürgerkrieg bereitet, weil man aus unvereinbaren Werthaltungen und Positionen nicht einfach einen Mischmasch machen kann, dies bestärkt die Unterschiede und führt zu einer Explosion der Gesellschaft. wenn man Demokratie mehr im schweizerischen Sinne versteht, nach einer Subsidiarität und Föderalität, dann ist das ein Hoffnungsszenario und das Erfolgsrezept des Libanons.

Wenn man Demokratie als Massendemokratie versteht, in der es nur auf die mehr als 50% ankommt und diese dann alles dürfen, weil es ansonsten keine Maßstäbe gibt, dann ist es das nicht nur das Rezept für Bürgerkrieg, sondern auch Genozid im großen Stil.

Das ist in der Tat eine Gefahr und das meine ich auch mit einer effektiveren Regierung, die meint, sie hat jetzt mehr als 50% der Bevölkerung hinter sich und darf jetzt alles machen im Staat und ihn funktioneller gestalten. Das ist eine reale Gefahr für den Libanon.

TLP: Wie würdest du die Mentalität der meisten Libanesen zu diesem Zentralstaat einordnen ? Mir haben einige Libanesen gesagt, die Leute im Westen zahlen zwar viel mehr an Steuern, aber ihr kriegt dafür auch etwas, wir zahlen weniger aber es ist immer noch zu viel, dafür bekommen wir faktisch nichts.

Hat sich dieses Bergvolk eine Mentalität der Freiheit bewahrt oder ist sie bereits am verschwinden ?

Rahim Taghizadegan: Leider nicht. Mentalität ist ungünstig, wenn man sich die Meinungen anhört und bei diesen Meinungen ist natürlich die Moderne nicht daran vorbeigegangen. Praktisch jeder Libanese hat sein Smartphone und seinen Facebook-Account, es gibt unzählige Fernsehsender, die gegeinander hetzen und ist dadurch geprägt.

Und was heißt Staat ? Man versucht immer mehr herauszubekommen, als man eingezahlt hat. Ich erinnere an Frederic Bastiats Ansage, der Staat sei die große Fiktion bei der jedermann versucht, auf Kosten aller anderen zu leben, und genau das sieht man hier prototypisch entstehen, begünstigt wird das durch eine sehr materialistische Orientierung der Libanesen. Sehr hohe Konsumneigung, relativ hohe Zeitpräferenz und das führt dann zu einer Erwartungshaltung, dass man da noch irgendwie mehr herausbekommen sollte.

Dabei wird hier meistens etwas übersehen, nämlich dass es in Österreich so sauber, gepflegt und ruhig im Vergleich zum Libanon aussieht, und ein Libanese der hier zu Besuch ist und sich denkt „fein, so hättte ich es auch gerne, Wien ist ja viel schöner als Beirut“, liegt nicht daran, dass wir vom Staat so viel zurückbekommen sondern dass diese Gesellschaft eine ganz andere ist. Sie ist eine, in der sich über eine lange Zeit die Fähigkeit herausentwickelt hat, über Familiengrenzen hinaus zu kooperieren und relativ wenig gesellschaftsschädigendes Verhalten an den Tag zu legen. Wien ist nicht deshalb so sauber, weil wir für unser Geld so viel Putzleistung zurückkriegen, natürlich gibt es viele Reinigungskräfte, aber im wesentlichen liegt es daran, dass Wiener relativ selten etwas einfach auf die Straße werfen, sondern einen Mistkübel suchen und es einstecken.

Das sind kulturrelle Angewohnheiten. Ich hielte es für absurd zu glauben, man könne den Libanon jetzt mit einer hohen Staatsquote sauberer zu bekommen. Vielleicht, aber nur zum Preis nordkoreanischer Zustände.

Das ist eine Illusion der Libanesen, die ihnen womöglich ihre letzten Freiheiten kosten wird. Die brauchen sie aber dringend, weil sie nicht so produktiv sind und es gerade diese Freiheiten sind, die es zulassen dass ein kleines Unternehmertum gedeiht, dass Beirut, auch wenn es nicht mehr so schön ist, nach mehrmaliger, kurz aufeinanderfolgender, Zerstörung fast ohne staatliche Aufbauprogramme gewaltig wiederaufersteht. Getragen wurde das von einer chaotischen, anarchistischen, privaten Entwicklung, Investitionen, privatem Wunsch nach Wohnraum, usw.

Wenn dieses Stück Freiheit fehlt, dann würde das Land relativ schnell das Niveau der dritten Welt erreichen, wie sonst auch im Nahen Osten. Es wäre schade darum, da der Libanon schon mal ganz knapp davor war, europäisches Niveau zu erreichen. Vor 1975 nannte man es die Schweiz des Nahen Ostens, den Leuten ging es beinahe so gut wie Schweizern, Österreichern, Deutschen, etc. Im Libanon ist das leider mißverstanden, was da dahinter steht, auch weil sich in der Geschichte die Dinge immer sehr viel Zeit lassen zwischen Kausalitäten und Faktoren.

Demnach bin ich nicht extrem optimistisch, was die Entwicklung des Libanons betrifft.

TLP: Zum Schluss noch ein Ausblick in die Zukunft: Die Steuereröhungen hast du bereits angesprochen, die Demonstrationen dagegen sind bereits am Laufen. Wird sich die Situation verschlechtern ? Wird das Land europäisches Niveau in der zentralstaatlichen Einmischung erreichen ?

Rahim Taghizadegan: Nein, das kann es nicht, davor geht das Land wieder in Flammen auf. Das geht eben nicht, weil dann die Konflikte wieder zunehmen und dann eskalieren können.

Und wenn jetzt eben die religiösen Überzeugungen mithinein kommen, dann wird es sehr brenzlig. Die verheerende Entwicklung des Schiitentums, den ursprünglich eher anti-politischen Zugangs der schiitischen Geistlichkeit, mit dem iranischen Vorbild da umzulegen auf eine Staatspolitik, also dass plötzlich aus der Verpflichtung Armen zu helfen eine Legitimierung staatlicher Steuereintreibung würde.

Und dann wird es ein Wettkampf darum, welche Werthaltungen da die Dominanz haben, weil sobald es Geld zu verteilen gibt, kommt natürlich die Frage wofür, für wen und was soll besteuert werden und da gehen die Meinungen natürlich ganz auseinander. Die Steuern auf Alkohol sind schon relativ hoch, das wäre eher ein schiitisch-sunnitisches Projekt.

Das birgt ein enormes Konfliktpotential, deswegen kann man nur hoffen, dass es nicht exekutierbar ist, weil man da die praktischen Probleme sieht, dass hier jetzt wieder die Wogen hochgehen und die Gruppen wieder aufeinander losgehen. Dann besinnt man sich vielleicht wieder auf die alte Masche, also internationale Gelder einzusammeln und sie korrupt versickern zu lassen.

In der Tat haben die Libanesen da wenig von ihrem Staat zurückbekommen und sollten dafür eigentlich dankbar sein, aber das verstehen sie eben nicht, weil die Illusion besteht und die Ansicht so stark ist, dass alles Positive vom Staat geschaffen wurde und zugeteilt wird. Die gesellschaftlich-kulturrelle Komponente wird völlig übersehen.

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