Nadim Gemayel (37) ist Abgeordneter im libanesischen Parlament, wo er die christliche Partei „Kataeb“ vertritt. Er entstammt einer der einflußreichsten christlichen Familien des Libanons, sein Vater Bashir Gemayel war der militärisch und politische Führer der Christen während des libanesischen Bürgerkriegs (1975-1990) und, bis zu seiner Ermordung 1982, zwei Wochen lang Präsident des Landes. „The Levantine Patriot“ traf in zu einem Gespräch über die Wirtschaftskrise im Libanon, die Hisbollah, Flüchtlinge und Einwanderung in seinem Büro in Beirut. (Anmerkung des Autors: Das Interview wurde am 4.September aufgenommen, daher waren die jetzigen Massendemonstrationen noch kein Thema)
TLP: Beginnen wir mit dem Thema Wirtschaftskrise: Der Libanon leidet unter einer schwachen wirtschaftlichen Entwicklung, die Arbeitslosigkeit ist hoch und immer mehr Leute, vor allem die Jungen, verlassen das Land. Welche Ideen und Maßnahmen haben Sie und Ihre Partei, um diese Entwicklung zu stoppen ?
Nadim Gemayel: Das ist eine sehr umfangreiche Frage. Die Wirtschaftskrise geht hauptsächlich auf zwei Faktoren zurück: Die Korruption und die Hisbollah Problematik. Wir haben ein großes Problem mit der Korruption im öffentlichen Sektor, bei den Dienstleistungen, zB. im staatlichen Stromversorger „Electricite du Liban“. Für diesen Sektor gibt der Staat 25% des BIP aus, und trotzdem produziert das Unternehmen nicht genug Strom für Beirut. Das hängt eben damit zusammen, wie die Dinge in diesem Land allgemein geführt werden und wie Politiker davon profitieren.
Das andere Problem sind die Waffen der Hisbollah und die Organisation selbst, was wiederum mit dem Iran zusammenhängt: Wann immer der Iran Israel oder dem Westen etwas „ausrichten“ will, passiert dies durch den Libanon. Dies verursacht Instabilität, Dysfunktionalität der Institutionen und ein schlechtes Umfeld für Investoren und eine langfristige Unternehmensplanung. Niemand vertraut einem Land, welches nicht über Krieg und Frieden auf seinem eigenen Territorium entscheiden kann, welches die Kontrolle über Teile des Staatsgebiets an Organisationen wie die Hisbollah abgegeben hat.
Der iranische Einfluß und die Korruption sind also die Hauptursachen für gegenwärtige Situation.
TLP: Laut der amerikanischen Heritage Foundation, die die wirtschaftliche Freiheit weltweit misst, fehlt es dem Libanon an Rechtssicherheit, es gibt zu wenig Vertrauen in die Justiz oder man fürchtet gar, enteignet zu werden. Stimmen Sie diesem Urteil zu ?
Gemayel: Teilweise, denn Enteignungen passieren nicht. Aber es stimmt, daß die Rechtssicherheit nur auf einem durschnittlichen Niveau ist. Dennoch gibt es Prinzpien, wie das Recht auf Eigentum, welche wir nie verletzen werden.
Die entscheidende Frage in der heutigen Zeit ist, welches ökonomische System wir wollen ? Wollen wir ein liberales System oder eine „dirgistische“ Wirtschaftsordnung ? Und,-
TLP: ..Verzeihen Sie mir, daß ich Sie unterbreche, aber welches Wirtschaftssystem bevorzugen Sie ? Eine Marktwirtschaft oder eine interventionistische Kommandowirtschaft ?
Gemayel: Ich bin ein freier Mann, ich bekenne mich zum freien Markt und zu purem Liberalismus. Wir versuchen auch so gut wir können, Privatisierungen voranzutreiben, um den Staat von der Bürde der „Nationalisierten“, öffentlichen Unternehmen zu befreien. Die unzureichend vorhandene Rechtssicherheit, die Sie angesprochen haben, rührt meiner Ansicht nach daher, daß sich die Gesetzeslage jederzeit ändern kann. Die Legislative produziert hier keine Stabilität und Rechtssicherheit ist genauso wichtig wie politische Stabilität oder die Öffentliche Sicherheit.
Ich denke, daß man das Problem der Rechtssicherheit schnell ändern kann, jedoch ist das Justizsystem das weitaus größere Problem, da es stark politisiert ist, die Verfahren zu lange dauern und darüber hinaus auch noch unter einer graßierenden Korruption leidet.
TLP: Meine nächste Frage dreht sich um das religiöse Proporzsystem („Konfessionalismus“) des Libanons, in dem die politische Macht und der Staatsapparat zwischen Christen, Sunniten und Schiiten aufgeteilt ist. Hat dies nicht maßgeblich zu den Problemen des Landes beigetragen ? Ist es außerdem nicht einfach auch obsolet geworden ?
Gemayel: Nein, das denke ich nicht. Das Problem des Libanons ist weniger der Konfessionalismus, als viel mehr der Klientelisms, die Korrpution, und auch eine Art moderner Feudalismus. Natürlich bringt das System seine Schwierigkeiten mit sich, aber gleichzeitig ist es auch eine Garantie für jede einzelne Konfession, erhalten zu werden und existieren zu dürfen. Aktuell ist das System dysfunktional, aber das hat andere Gründe. Wenn heute ein Führer einer konfessionellen Gemeinschaft vorgibt, seine Gruppe zu schützen, nur um in Wirklichkeit sich und seinen engsten Kreis auf Kosten seiner Leute zu bereichern, dann ist das viel schlimmer, als die Existenz dieses Systems selbst.
Wenn man den Konfessionalismus abschaffen möchte, dann muß man gleichzeitig auch Sicherheit und Schutz für alle Gemeinschaften garantieren können, zum Beispiel durch ein Neutralitätsgesetz oder durch Dezentralisierung und Föderalismus.
TLP: Einige Intellektuelle im Westen sind der Auffassung, würde man eine moderne westliche Massendemokratie, mit gleichem Wahlrecht, gleichen politischen Partizipationsrechten, etc., in einem multireligiösen-multiethnischen Land wie dem Libanon einführen, würde dies langfristig in den Bürgerkrieg führen, da die unterschiedlichen Gruppen damit beginnen würden, um Einfluß, Macht und Dominanz im Staatsapparat zu kämpfen. Sehen Sie das ähnlich ?
Gemayel: Jedes Land auf der Welt hat dieses Problem, sei es ein Regionales, ein Religiöses, oder sei es eine Frage kultureller Dominanz, etc. Es existiert in Belgien, in der Schweiz, in Frankreich oder auch in den USA. Man muss die Interessen der verschiedenen Gruppen binden um ein gewißes Gleichgewicht zu schaffen, und, gleichzeitig, in der Verfassung ein System der „Checks and Balances“ errichten.
Wir können auch nicht jedes System einfach so übernehmen. In einigen Ländern gibt es ein Verhältniswahlrecht, in anderen ein Mehrheitswahlrecht, dort wiederum ein direktdemokratisches System. Es gibt Länder mit einem parlamentarischen Einkammersystem und welche mit einem Zweikammersystem. Demokratie bedeutet nicht Mehrheitsherrschaft, Demokratie ist ein von Menschen für Menschen und für ihre Interessen geschaffenes System, in dem jeder partiziperen kann. Die Demokratie ist nichts, was man einfach einführt und dann ist es da. Sie muss an das jeweilige Land, unter berücksichtigung seiner Werte, seiner Geschichte, angepasst werden.
TLP: Der Libanon ist gerade knapp an einem erneuten Krieg mit Israel vorbeigeschrammt, der Krieg in Syrien geht nach wie vor weiter und hat große Auswirkungen, vor allem durch die Flüchtlinge, auf das Land. Wie, denken Sie, kann das Land in Zukunft verhindern, in solche Konflikte hineingezogen zu werden ?
Gemayel: Erstens, das ist kein Konflikt zwischen dem Libanon und Israel, sondern zwischen Israel und dem Iran, vertreten durch die Hisbollah. Dieser Konflikt hat nichts mit den Libanesen zu tun, obwohl leider alle Libanesen den Preis bezahlen, er wird nur auf libanesischemTerritorium ausgetragen. Die Hisbollah interessiert sich nicht an der Bewahrung des Landes, Sie würde es in Kauf nehmen, daß das Land zerstört wird, wenn es dem Iran gefällt. Auf der anderen Seite unterscheidet Israel nicht zwischen der Regierung und der Hisbollah, sie sind bereit, gegen jeden zu kämpfen, um die Agressionen zu stoppen.
Zweitens, und hier komme ich wieder auf Ihre erste Frage zurück, ist dieser Konflikt und ein möglicher Krieg sehr schädlich für die Wirtschaft, da er Investoren abschreckt und den Tourismus abwürgt. Der Libanon hängt aber von Tourismus und ausländischem Kapital ab.
Drittens, es sind weder die Hisbollah noch ihre Waffen, die Stabilität zwischen Israel und dem Libanon schaffen können. Wenn wir Stabilität möchten, nicht Frieden, dann kann das nur durch die Internationale Gemeinschaft oder die Arabische Gemeinschaft passieren, aber nicht durch die Waffen einer Miliz.
TLP: Die Regierung ergreift jetzt mehr Maßnahmen gegen die syrischen Flüchtlinge im Land, sie versucht so viele wie möglich nach Syrien abzuschieben. Obwohl Sie jetzt in der Opposition sind, unterstützen Sie dennoch dieses Vorgehen ?
Gemayel: Um es freundlich auszudrücken, ich habe bis jetzt noch keine effektiven Maßnahmen der Regierung gesehen. Ich höre die Regierung sehr laut verkünden, dass sie die Syrer zurückschicken wollen, dass sie sie in Lagern unterbringen will, etc., aber aktuell passiert eben nichts. Unser oberstes Ziel muss ist es, die Flüchtlinge wieder nach Syrien zurückzubringen. Sollte das so bald nicht möglich sein, müssen wir sie in Lagern unterbringen, die von der Regierung kontrolliert werden, es muss Sicherheit und medizinische Versorgung gewährleistet sein. Derzeit ist das aber nicht zu realisieren, da die Syrer über das ganze Land verteilt sind. Es ist ein heikles Thema, und nach acht Jahren Krieg sehe ich einfach, dass die Regierung zu wenig getan hat.
TLP: Sie haben gesagt, Sie wollen die Syrer in Lagern unterbringen oder sie nach Syrien abschieben. Viele europäische Stimmen würden das jetzt als inhuman oder gar als rassistisch kritisieren. Was entgegnen Sie den Kritikern ? Und meine zweite Frage: Würden Sie die Syrer auch zwingen, das Land zu verlassen ?
Gemayel: Ganz einfach: Wir wollen die Flüchtlinge nicht mit Zwang zurückschicken. Ich war einer der ersten, die gesagt haben, man sollte mit der syrischen Regierung sprechen. Ich bin bereit für einen Dialog, um eine sichere Rückkehr der Syrer sicherzustellen, obwohl ich definitv ein Gegner der Assad-Regierung bin und es nicht gutheiße, was er mit seinem Volk tut.
Nun, was ich der Internationalen Gemeinschaft sage: Wir sind ein sehr armes Land. Wenn ihr die Flüchtlinge aufnehmen könnt, dann fühlt euch frei, sie zu euch zu holen. Ich bin überzeugt davon, dass die Syrer in Europa sehr viel willkommener sein werden als hier und sie dort glücklicher sein werden, da es ihnen dort, wirtschaftlich wie sozial, besser gehen wird.
TLP: Kommen wir zu einem anderen Thema: Die Zahl der Christen im Nahen Osten ist am schrumpfen. Am dramatischsten war der Rückgang im Irak, seit dem Sturz von Saddam Hussein. In Syrien und sogar im Libanon verkleinern sich die Gemeinden in unterschiedlicher Intensität. Wie sehen Sie die Zukunft der Christen im Libanon und der gesamten Region ?
Gemayel: Die Existenz der christlichen Gemeinschaft hängt von drei Faktoren ab: Wohlstand, Freiheit, Sicherheit. Das sind die drei Hauptsäulen der christlich-orientalischen Existenz. Wenn nun eine dieser Säulen wegbricht, wird es einen Zustrom von Christen nach Europa und in die Golfstaaten geben, die Verbundenheit zu ihrem Ursprungsland bleibt aber. Brechen aber zwei oder sogar alle drei dieser Säulen weg, verlieren die Christen diese Verbundenheit und sie werden die Region ohne Reue und ohne zurückzublicken verlassen.
Während des Libanesischen Bürgerkriegs, gab es Freiheit und Wohlstand, aber keine Sicherheit. Die Christen verließen zwar das Land, aber als die Sicherheit wiederhergestellt wurde, der Krieg endete und Bashir 1982 Präsident wurde, kehrten sie zurück. Heutzutage fehlen alle drei Faktoren, deswegen sind wir in einer sehr schwierigen Situation. Es ist das erste Mal, dass wir in so einer Situation leben. Es fehlt an Visionen, an Projekten, um die Verbundenheit der Christen zu ihren Ursprungsländern im Nahen Osten wieder zu wecken.
TLP: Fehlt es auch an Sicherheit für die Christen im Libanon ?
Gemayel: Ja. Aber nicht nur für die Christen, für alle Libanesen. Wenn die Christen jedoch direkt bedroht werden, dann wissen sie schon, wie sie sich zu verteidigen haben. Das Problem betrifft den Libanon als Ganzes, es betrifft alle Libanesen, weil das Militär nichts gegen die Hisbollah unternehmen kann. Die Hisbollah kann alles entscheiden, sie führte mehrere Putsche durch, sie demonstriert Stärke.
TLP: Aber ist die christliche Gemeinschaft im Libanon heute mehr durch die Hisbollah bedroht, oder eher durch den Aufstieg des sunnitischen Islamismus in der ganzen Region ?
Gemayel: Schauen Sie, wenn Sie diese Frage heute den Christen stellen, dann werden die Meisten wahrscheinlich antworten, dass der sunnitische Extremismus die größere Bedrohung ist. Aber wenn Sie mir diese Frage stellen, dann muss ich Ihnen antworten, dass die Bedrohung durch die Hisbollah die weitaus Größere ist, und zwar aus drei Gründen.
Erstens, hat die Hisbollah Waffen und direkten Einfluß innerhalb des Landes. Und jetzt legalisieren wir ihre Waffen, ihre Politik, ihre Identität, etc. Zweitens, die Hisbollah verwendet seit zwanzig Jahren das Argument, dass es eine große Bedrohung gibt und dass sie hier sind um die Christen zu beschützen, da ja Christen wie Schiiten eine Minderheit sind. Drittens, die Hisbollah verändert die Identität des Libanons, was völlig inakzeptabel ist. Die Identität, die sie etablieren wollen, unterscheidet sich komplett von der Mentalität der Libanesen. Wir sprechen hier von der „Wilayat al-Faqih“, der Ideologie der Islamischen Revolution im Iran, wir sprechen hier von den Regeln einer Diktatur, wie sie in Syrien oder Venezuela herrschen, die die Hisbollah einführen will.
Wenn wir jetzt zu den drei Säulen zurückkehren: Wohlstand wird nicht mehr existieren, weil der Hisbollah eine dirigistische Wirtschaftsordnung vorschwebt, die Freiheit wird abgeschafft werden und die Sicherheit wird unter ihrer Kontrolle sein, was wir nicht akzeptieren können. Man konnte oft sehen, vor allem während der letzten fünfzehn Jahre, dass, wenn Christen sich öffentlich gegen die Hisbollah ausgesprochen haben, sie ermordet wurden. Das passierte mit Bashir Gemayel, mit Gebran Tueni und anderen Persönlichkeiten der 14. März-Allianz.
Was wir auch gesehen haben, ist folgendes Muster: Es wird immer nach einer Bedrohung gesucht, um die eigene Existenz zu rechtfertigen. Fünf Jahre wurde uns erzählt, dass der IS kommen wird und uns tötet. Jetzt ist er von der Grenze zu Syrien vertrieben, aber gibt die Hisbollah jetzt ihre Waffen ab ? Nein ! Denn es gibt ja noch die palästinensischen Flüchtlinge im Libanon. Wir brauchen die Waffen der Hisbollah nicht, um uns zu schützen. Es gibt den Staat und das Militär. Wir Christen wissen außerdem, wie wir uns verteidigen können. Wir brauchen keinen Beschützer ! Wir haben gesehen was in Syrien passiert ist: Assad erzählte den Christen, dass er sie beschützen werde, jetzt braucht er sie als Legitimation für sein Regime. Man schloss einen Pakt mit dem Teufel. Wir akzeptieren es nicht, der Schild für irgendjemanden zu sein, sei er ein Sunnit, Schiit oder sonstwas.
TLP: Sie sprachen bereits über die iranische Achse und die saudische Achse. Es gibt aber noch die dritte Achse, bestehend aus der Türkei, Katar und der Muslimbruderschaft, die in den letzten Jahren fast überall im Nahen Osten an Einfluß gewonnen hat, sowie auch in Mitteleuropa und am Balkan.
Gemayel: Es stimmt, dass es aktuell einen großen Konflikt zwischen den Regionalmächten gibt. Das Hauptproblem ist aber nach wie vor der sunnitisch-schiitische Konflikt. Eine Zeit lang waren die Muslimbruderschaft und Saudi-Arabien gemeinsam gegen Assad, das änderte sich nach einer gewissen Periode. Am Ende kehrt man eben trotzdem immer zu diesem Sunni-Shia Konflikt zurück, nur wenn es um Einflußsphären geht, streitet man sich untereinander.
Ich persönlich denke nicht, dass der Libanon in der Einflußsphäre der Muslimbruderschaft liegt. Wir sind viel mehr in den saudisch-iranischen Konflikt involviert. Im Nahen Osten ist sie sehr stark, aber hier hat sie kaum Einfluß, obwohl sie natürlich versucht, Anhänger zu gewinnen.
TLP: Denken Sie, dass die Türkei unter der Regierung von Recep Tayyip Erdogan ein guter Partner für den Libanon sein kann ?
Gemayel: Ich denke, dass wir mit allen gute Beziehungen haben können. Sogar mit Syrien, Israel oder Ägypten. Ich möchte hier jetzt keine Bekundungen für mögliche Allianzen kundtun. Wir können uns mit dem Iran, mit den Saudis, mit den Arabischen Emiraten oder Ägypten verteidigen, ich habe kein Problem mit irgendjemandem. Mir geht es darum, meine Freiheit und Sicherheit zu erhalten, das ist mein Ziel.
TLP: Kommen wir zum letzten Punkt: Während der letzten Jahrzehnte konnte man vor allem in Westeuropa einen wachsenden muslimische, meistens sunnitischen, Bevölkerungsanteil beobachten. Unter vielen Europäern löst das eine gewisse Angst vor einer „Islamisierung“ aus. Verfolgen Sie diese Debatten in Europa ? Können Sie diese Angst verstehen, oder halten Sie sie für unsinnig ?
Gemayel: Natürlich kann ich diese Sorgen verstehen. Vielleicht sollte ich dass jetzt besser nicht sagen, aber die meisten Muslime, die nach Europa auswandern, sind solche, die man lieber nicht im Land haben möchte. Ich denke aber nicht, dass das unbedingt daran liegen muss, weil sie Muslime sind. Eine Veränderung der Demographie, wenn man beispielsweise die halbe Bevölkerung Kolumbiens nach Chile verfrachtet, wird in aller Regel immer zu Verwerfungen führen.
Wenn man dann aber auch noch unterschiedliche Mentalitäten hat, zwei unterschiedliche Wege die Welt zu betrachten, und zwar vor allem dann, wenn es um den Gegensatz von Demokratien und religiös-orientierten Staaten geht, wird das immer zu Konflikte führen. Es ist auch nicht leicht für Muslime, sich einer westlichen Gesellschaft anzupassen, und es kann in einigen Ländern oder Städten Instabilität schaffen, wenn man ihnen mehr und mehr Macht gibt.
TLP: Rechtsgerichtete Parteien sind in Europa gerade im Aufwind, manche Beobachter sprechen sogar von der Gefahr eines neuen Faschismus. Ist das überhaupt eine eine angemessene Reaktion auf diverse Entwicklungen des Westens, vor allem in Bezug auf die Flüchtlingskrise von 2015 ?
Gemayel: Ich kann diese Reaktionen gut nachvollziehen. Der Libanon hat den Preis bezahlt, den Europa heute bezahlt, denn wir haben ihn mit den Palästinensern bezahlt. Einst kamen die Palästinenser in unser Land, wir mussten ihnen Zuflucht gewähren, sie versorgen, uns um sie kümmern, etc. Am Ende haben sie aber geglaubt, dass ihnen dies das Recht gibt, einen Staat im Staat zu schaffen. Und so kann es auch in Europa passieren: Ab einem gewissen Punkt, können die Flüchtlinge aufgrund der demographischen Macht die Herrschaft für sich reklamieren. Das ist eine sehr gefährliche Situation. Aber soll und kann man das mit Extremismus bekämpfen ? Ich denke eher, dass es zwei andere Dinge braucht: Erstens, den Zustrom umkehren, indem man die Staaten des Nahen Ostens wirtschaftlich und kulturell stärkt, sodass es zu einer Annäherung des Lebensstandards kommt. Zweitens, indem man die Einwanderung stoppt. Ihr gebt den Immigranten mehr Rechte, als eurer eigenen Bevölkerung.
TLP: Sie sagen also für Teile Europas eine „Libanonisierung“ voraus, ein Auseinanderbrechen der Gesellschaften in unterschiedliche ethnische und religiöse Gruppen, die sich, mal mehr mal weniger, bekämpfen.
Gemayel: Natürlich ! Man wird einen Punkt erreichen, an dem man wahrscheinlich erneut ein konfessionalistisches Regime bekommt. Ein System, in dem es dann eigene Regeln für Muslime und Christen geben wird, wo man zwischen den Gruppen unterschiedliche Garantien und Arrangements treffen muss. So wird es beginnen und man weiß nicht, wie es enden wird.
TLP: Über die Einwanderungspolitik von Angela Merkel denken Sie offensichtlich nicht besonders positiv.
Gemayel: Ich möchte keine Urteile über innereuropäische Angelegenheiten fällen. Aber, wenn Sie die Außengrenze der EU meinen, dann denke ich persönlich, dass sie kontrolliert werden sollte. Europa muss seine Identität bewahren. Wenn ich mich nicht irre, gibt es in der Verfassung der EU, ich glaube, es ist Artikel 6, einen Passus, dass Europa auf jüdisch-christlichen Werten basiert. Diese Werte müssen bewahrt werden, denn damit sind essentielle Dinge wie Demokratie und Humanität gemeint.