Als ich noch der Waldbauernbub war, konnte ich beobachten, wie Erwachsene - meist waren es ältere [1] Frauen - zusammenstanden und sich aus ihrem Leben erzählten. Und dabei malten sie einander breit und liebevoll aus, was sie schon in ihrem Leben "durchgemacht" [2] hätten. Und wenn dann einer eine Entsetzlichkeit aus seinem Leben erzählt hatte, reagierte der Gesprächspartner nicht etwa mit Mitleid ("Gott, so was schlimmes, Sie Armer!" ), Trost ("Jetzt sind die Zeiten aber auch für Sie besser!" ) oder Erleichterung ("Da hatte ich aber noch Glück, sooo schlimm ist es mir nicht ergangen!" ), sondern mit Wetteifer. Auf jedes Unglück der anderen setzte sie ein eignes, das mindestens genau so groß, genau so schrecklich sein mußte. Worauf die erste, nicht faul, ihrerseits eine neue Geschichte vorbringen mußte, welche die der Anderen an Grauen zu übertreffen hatten.
Das heißt, es fand ein regelrechter Wettbewerb statt, welcher von beiden (oder von wer-weiß-wie-vielen) nun der am meisten leidgeprüfte war. So, als würde sich der Wert eines Menschen an den durchgemachten Leiden bestimmen lassen können.
Und dann der jämmerliche, selbstmitleidige Ton, in dem diese Geschichten so gerne erzählt wurden... Und das ging dann eine Weile hin und her, bis das Championat der Leiden entschieden war und die Schmerzensfrau/der Schmerzensmann Nummer 1 gekürt war.
Aus dem Rückblick von heute ähnelt mir das Ganze wie der Wettstreit der drei Frauen [3] in Shakespeares "Richard III.", wer von ihnen unter Richard am meisten zu leiden hatte und hat.
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[1] Na ja, was heißt "ältere"? Für einen Acht- oder Zehnjährigen ist eine Fünfunddreißigjährige natürlich schon ziemlich alt, eine Fünfundvierzigjährige ist eine uralte Fregatte.
[2] "Durchmachen", bzw. "Durchgemacht haben" war damals ein wahnsinnig häufig gehörtes Wort. Bitte, angesichts des gerade erstmal 10 - 15 Jahre zurückliegenden Krieges auch kein sonderliches Wunder.
[3] Königin Margaretha, Königin Elisabeth und die Herzogin von York, im Ersten Aufzug, Vierte Szene.