Der Musikkritiker Ulrich Schreiber hat 1980 im Westdeutschen Rundfunk ein bemerkenswertes Experiment gemacht [1]. In einer Rundfunksendung wurden drei Interpretationen der 4. Sinfonie, der "Romantischen", von Anton Bruckner gespielt [2].
Die Hörer hatten die Möglichkeit, telefonisch ihre Meinung zu äußern, das heißt sie konnten die drei Interpretationen in eine Rangordnung bringen. Die einzelnen Aufnahmen wurden von kurzen musikkritischen Stellungnahmen eingeleitet, welche die verschiedenen Interpreten (Karl Böhm, Leonard Bernstein und Herbert von Karajan) stilistisch einordnen sollten und dabei ganz bewußt mit Klischees arbeiteten.
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Der Haken war - es handelte sich jedesmal um die gleiche Aufnahme! Und: Sie stammte von keinem der drei vorgestellten Dirigenten. Im Verlauf der Sendung riefen 563 Hörer an, die neben einigen soziologischen Daten ihr Urteil in den Computer beim Sender einspeisten [3]. Dabei bezeichneten sich 65 Prozent der Anrufer als Klassik-Spezialisten. Das Ergebnis: 30 Prozent stimmten für Karajan, 28 Prozent für Bernstein und 23 Prozent für Böhm, 18 Prozent enthielten sich. Auf die Idee, daß hier manipuliert worden sein könnte, kam kein einziger, kein einziger Anrufer äußerte auch nur den Verdacht, es habe sich um identische Musikbeispiele gehandelt.
Ein bißchen Wortgeklimper zur Einstimmung und der angebliche Kenner sackt mit all seiner Sachkenntnis ein.
Ossian
Ein weiteres, noch interessanteres Beispiel, an dem sich zeigen läßt, daß nicht nur Musikexperten wirr im Hirn sind, sondern auch Literaturkenner, ist die Geschichte von Ossian. 1762 erschien in London die englische Übersetzung eines uralten keltischen Epos. Der Text wurde auf ca. 500 bis 600 nach Christus datiert, war damit deutlich älter als alle (bis heute) bekannten Sprach- und Literaturdokumente nord- und mitteleuropäischer Sprachen. Der Autor war ein keltischer Barde namens Ossian, der in seinem Epos in beeindruckend bildkräftigen Versen die Heldentaten seines Vaters und anderer keltischer Heroen besang. Das intellektuelle Europa - unter anderem der junge Goethe, der etwas später eine Übersetzung von Teilen des Ossian-Epos ins Deutsche anfertigte - war begeistert von diesen Versen, von der archaischen Wucht, die dem Leser entgegensprang.
In England blieb man weitgehend skeptisch, man wollte dem barbarischen Volk der Schotten eine solche Kulturleistung einfach nicht zutrauen. Das Mißtrauen wurde geschürt von dem Umstand, daß der Übersetzer, James McPherson, den von ihm entdeckten gälischen Originaltext nicht und nicht veröffentlichen wollte. Geraume Zeit später war dann ohne Zweifel erwiesen, daß James McPherson den Text nicht übersetzt, sondern verfaßt hatte. Pschschsch, eine Fälschung! Raus war der Zauber und die Verse waren plötzlich gar nicht mehr von archaischer Wucht (was sie immer noch hätten sein müssen, wenn die Beurteilung zuvor von Sachkenntnis geleitet worden wäre).
Das literarisches Kunstwerk und sein Autor
Das Kreuz nämlich ist, daß einerseits ein Text ein Text ist. Andererseits aber ist ein Text auch kontextabhängig. Wenn der Satz "Erwin Pachulke hat, das versichere ich hiermit als Augenzeuge, Herr Kommissar, um ca. 18.00 h den Juwelier Rembremmerding überfallen und erschossen" in einem Polizeiprotokoll steht, dann wird dieser Text nur solange belangvoll sein, bis sich erwiesen hat, daß Erwin Pachulke, ausweislich einer Videoaufzeichnung, um ca. 18.00 h, ca. 300 km vom Tatort entfernt sein Auto betankt hat. Oder bis Pachulke endlich gehängt ist.
Ist derselbe Satz dagegen Teil eines literarischen Kunstwerks, so verlieren weder der Satz als solcher, noch das literarische Kunstwerk an sich das geringste, wenn sich herausstellt, daß der ehdem geschätzte Autor ein - sagen wir mal - Serienmörder ist.
Künstler begehen eher selten Morde, das ist richtig, gelegentlich aber begehen Mörder Kunst. Was ich sagen will: Der Hinweis auf den Serienmörder ist kein ausgedachtes Beispiel. Der Österreicher Jack Unterweger [4] wurde wegen des Mordes an einer Wiener Prostituierten verhaftet und schließlich verurteilt. Während seiner Haftzeit startete Unterweger eine fulminante Karriere als Häfenliterat (in Deutschland würde man Knastpoet sagen), er wurde zum Liebling des österreichischen Feuilletons. Viele Prominente aus Kunst und Politik (unter anderem Elfriede Jelinek, Günter Grass, Erich Fried) setzten sich für seine Begnadigung ein. Unterweger wurde dann tatsächlich vorzeitig entlassen und setzte anschließend seine Karriere als Serienmörder fort.
Ein literarisches Kunstwerk wirkt aus sich heraus. Tut es das nicht, ist es kein Kunstwerk, sondern eine Zumutung. Der Text ist entweder gut oder er ist es nicht, und er wird nicht besser oder schlechter dadurch, daß ich irgendwas über den Autor erfahre.
Ich habe mal aus relativer Nähe heraus die Geschichte eines Journalisten erlebt, der unter anderem hochgelobte Bücher geschrieben und als Ghostwriter für einen hochrangigen Würdenträger gearbeitet hat. Dann ist er auf einmal verhaftet worden und wurde schließlich wegen einer sexuellen Straftat zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Als die Vorwürfe gegen ihn bekannt wurden [5], hat sich der Würdenträger sofort von ihm distanziert und heftig abgestritten, daß ihm der Mann die Reden geschrieben hätte, und die Bücher wollte auch keiner mehr kaufen. Hm. Wie ich oben sagte: Wenn die Texte vorher gut waren (ich fand sie nicht so toll, auch vorher nicht), dann sind sie es nach dem Skandal immer noch.
Der Text selbst kann seinen Charakter nicht mehr verändern, wenn er erstmal geschrieben ist. Was sich dagegen ändern kann, ist seine Wahrnehmung und Interpretation, wobei letztere, wie gesehen, sehr stark von dem Gewese und Getöse um den Text herum beeinflußt sein kann.
George Forestier, der falsche Fremdenlegionär
In den fünfziger Jahren erschien in Deutschland ein Band mit Gedichten, in denen George Forestier, ein ehemaliger Fremdenlegionär, seine erschütternden Erlebnisse und Leiden während des Indochina-Kriegs verarbeitete. Forestier wurde damals mit Ingeborg Bachmann in einem Atemzug genannt, einige stellten gar seine Gedichte über die ihren. Sie beeindruckten in ihrer Wucht und Authentizität.
1955 stellte sich heraus, dass das Leben und das Werk Forestiers von Karl Emerich Krämer frei erfunden worden waren. Krämer war alles mögliche (u. a. Nazi), aber er war weder in der Fremdenlegion gewesen, noch kannte er Indochina aus eigener Anschauung.
Batsch! Mit einem Schlag war der Zauber seiner Verse verflogen, niemand liest heute noch die Gedichte, in der Literaturgeschichte kommt Forestier allenfalls noch als Kuriosität am Rande vor.
Literatur arbeitet fast immer mit der Einfühlung, das heißt man erwartet von einem Schriftsteller nicht, daß er die dargestellten Ereignisse tatsächlich selber erlebt hat, auch wenn er als Ich-Erzähler auftritt. Karl May, der seinerzeit seine Geschichten ausdrücklich und beharrlich als selbsterlebt ausgegeben hat, hat man seinen Schwindel verziehen, George Forestier nicht.
Goya, der Stümper
Was der Louvre in Paris für Frankreich ist, das ist der Prado in Madrid für Spanien. Und was die Mona Lisa für den Louvre ist, das ist "Der Koloß" von Francisco Goya für den Prado. "Der Koloß" gilt als das Meisterwerk Goyas, der uns noch so viele andere Meisterwerke hinterlassen hat. Das Bild ist das Schmuckstück des Prado und es zählt zu einem der am häufigsten und intensivsten von der Fachliteratur behandelten Gemälde, nicht nur Goyas, sondern der Kunstgeschichte insgesamt.
Alles Vergangenheit, dies. Denn, wie es im Leben manchmal so geht: Vor einiger Zeit entdeckte man in einer Ecke des Bildes ein verstecktes Kürzel, das Experten als die Initialen "AJ" identifizierten. Das Bild ist inzwischen 200 Jahre alt und der Laie frägt sich natürlich, wieso diese Entdeckung nicht schon längst gemacht worden ist. Immerhin ist der Koloß eines der bestdokumentierten Werke der Kunstgeschichte. Legionen von Experten haben im Laufe von 200 Jahren das Bild sehr, sehr genau untersucht, kunstgeschichtlich, kunsttheoretisch und natürlich auch naturwissenschaftlich.
Wie auch immer:
Das Kürzel "AJ" deutet nicht auf Francisco Goya hin, das wurde selbst den Experten klar, sondern vielmehr auf Asensio Juliá, einen Schüler Goyas, der - klar - auch in Goyas Werkstatt gearbeitet hat.
Und nun gingen den Experten die Augen auf: Das Prado-Museum veröffentlichte ein Gutachten, das ein Team von Experten verfaßt hatte, welche den "Koloß" mehre Monate lang untersucht hatte (ntv-de vom 26.01.2009). Das Werk passe nicht zum Stil Goyas hieß es dort und: "Es gibt markante Unterschiede zwischen dem "Koloss" und den Meisterwerken Goyas, deren Urheberschaft dokumentiert ist. (...) Bei richtigem Licht betrachtet wird deutlich, dass die dürftige Technik, das Licht und die Farbtöne nicht dem Niveau Goyas entsprechen." Die Gutachter hoben ferner hervor, dass das Gemälde perspektivische Fehler aufweise, die einem Perfektionisten wie Goya niemals unterlaufen wären.
Das sind starke Worte, kühne Worte. Dem großen Meisterwerk Goyas, das zu den bedeutendsten Meisterwerken der Malerei gezählt wurde, wird nun auf einmal "dürftige Technik" nachgewiesen, man findet jetzt plötzlich Fehler in der Perspektive, die einem Perfektionisten wie Goya niemals unterlaufen wären. Waren die Leute vorher alle blind gewesen?
Dieses noch, leidlich zum Thema passend.
[1] Die Informationen verdanke ich dem Artikel "Erkennen Sie den Interpreten?" von Reinhard Söll, Mittelbayerische Zeitung, 17.07.1982. Er wiederum gibt als Quelle den Artikel "Mystifikation in der Musik" aus der Zeitschrift "HiFi-Stereophonie" vom Januar 1981 an. Dort wurde das Experiment detailliert beschrieben, weitere Informationen zu diesem Artikel, geschweige einen Link habe ich nicht gefunden.
[2] Es wurden anscheinend nur Auszüge gespielt. Die 4. Sinfonie von Bruckner dauert immerhin ca. eine Stunde.
[3] PCs und Internet waren 1980 noch unrealistische Träume.
[4] Der für einen Österreicher eher untypische Vorname Jack kommt von seinem leiblichen Vater, einem GI. Es ist kein Künstlername, obwohl Unterweger vor seiner literarischen Karriere Aktionskünstler war (Bankraub, Mord etc.).
[5] Es wurde damals erst gegen ihn ermittelt, eine Anklage, geschweige eine Verurteilung war noch in weiter Ferne.