Manchmal haben Effekte Nebeneffekte. Nein, nicht manchmal. Oft. Genau genommen: Immer.
Am Anfang jeden Jahres findet in Goslar der Verkehrsgerichtstag statt. Im Jahre 2010 (man sieht, der Blogbeitrag ist nicht von brennender Aktualität) hatten sich schon im Vorfeld einige Experten aus der Politik zu Wort gemeldet und sich für die Rechte der MPU-Kandidaten stark gemacht.
Der damalige Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer (CSU) hatte mehr Transparenz bei der medizinisch-psychologischen Untersuchung von Verkehrssündern gefordert, der verkehrspolitische Sprecher der FDP, Patrick Döring, hatte gemeint, Ton- oder Video-Aufzeichnungen von diagnostischen Gesprächen sollten eigentlich selbstverständlich sein.
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Das hört sich gut und bürgerfreundlich an: Nachprüfbare Transparenz statt geheimnisumwitterter Entscheidungen von Psycho-Halbgöttern. Seit etwa 20 Jahren bemühen sich freundliche Interessenvertreter darum, die Bedingungen für MPU-Kandidaten zu verbessern und haben mit den durchgesetzten Verbesserungen die Situation für die Betroffenen deutlich verschlechtert.
Druck macht erfinderisch
Man sollte sich klarmachen, daß bei einer MPU intime, gelegentlich sehr kitzlige Themen angesprochen werden. Bei der Alkoholfragestellung etwa geht es nicht nur darum, wann einer wieviel getrunken hat, sondern auch - und vor allem - warum! Und schon ist man bei Eheproblemen, Lebenskrisen und sonstigen delikaten Punkten in der Biographie. Um ein positives Gutachten zu bekommen, sollte der Kandidat tunlichst wahrheitsgemäß und offen auf diese Themen eingehen.
Bis in die späten achtziger, frühen neunziger Jahre hinein war es bei den Begutachtungsstellen üblich, zwar ausführliche Gespräche zu führen, sich bei den Gutachten dagegen mit knappen Charakteristiken zu begnügen. Die Gutachten bestanden zum Großteil aus vorgefertigten Textblöcken, die in etwa das Problem und seine Lösung durch den Kandidaten skizzierten. Wenige Sätze nur bezogen sich ganz individuell auf den jeweiligen Kandidaten.
Das hatte niemand weiter gestört, solange - bis weit in die Achtzigerjahre hinein ‑ die Gutachten zum überwiegenden Teil positiv ausfielen. Als dann jedoch, vor allem wegen der enorm hohen Rückfallquoten bei positiv Begutachteten, die Untersuchungskriterien schärfer und die positiven Gutachten seltener wurden (1), begannen Anwälte, ADAC und andere Interessenvertreter der betroffenen Kraftfahrer, die Arbeit der MPU-Stellen zu kritisieren. Was man damit erreichen wollte (und will), waren (und sind) positive Gutachten: Laßt die Leute halt wieder fahren!
Was man jedoch sagte (denn man will ja "seriös" argumentieren) war: "Eure Kurzgutachten mit den vielen pauschalen Textbausteinen sind zu wenig nachvollziehbar. Schreibt bessere, d. h. ausführlichere Gutachten!"
Die Untersuchungsstellen reagierten auf den wachsenden Druck und bewerkstelligten in der Folgezeit mit sehr viel Aufwand eine Verbesserung, sprich: Verlängerung der Gutachten. Die Gutachten wurden deshalb nicht teurer, die Psychologen (es sind in der überwiegenden Mehrzahl freiberufliche Mitarbeiter, die pro Untersuchung bezahlt werden) bekamen für die nun aufwendigeren Gutachten auch nicht mehr Geld als früher für die Kurzgutachten. Das heißt, sie mußten jetzt notgedrungen an anderer Stelle mit ihrer Arbeitszeit haushalten.
Verschlimmbesserungen 1: Der Laptop
Früher hatte sich der Psychologe die Kerninhalte des Gespräches per Hand notiert und diese Notizen dann in sein Gutachten eingebaut. Jetzt hat der MPU-Psychologe im Regelfall einen aufgeklappten Laptop vor sich stehen und hackt während des Gespräches mehr oder weniger virtuos auf die Tastatur ein, hält damit Fragen und Antworten fest.
Die Nervosität, die sich durch den Anblick des mitschreibenden Gegenübers in ein solches Gespräch einschleicht (und die fairerweise auch nie ganz verschwinden sollte, denn es ist kein freundlicher Kaffeeplausch), ist jetzt auf die Spitze getrieben. Wo ich sonst als Klient im Verlaufe des Gesprächs das Mitschreiben stellenweise fast ignorieren konnte, weil es im allgemeinen Gestenspiel des Psychologen unterging, bekomme ich nun durch die beständig klappernde Computertastatur im wahrsten Sinne des Wortes den aus Krimis bekannten Satz eingehämmert: Alles, was Sie hier sagen, kann später gegen Sie verwendet werden!
Im Untersuchungsgespräch einer MPU sitzt dem Psychologen, der in diesem Moment eine erhebliche Macht über seinen Gesprächspartner hat, ein teils verängstigter, teils aggressiv misstrauischer Klient gegenüber. Dieser Klient hat aber nur dann eine Chance, sein Ziel, ein positives Gutachten, zu erreichen, wenn er sich vom Psychologen trotz der einschüchternden Ausgangslage zu einem - wenigstens einigermaßen - offenen und vertrauensvollen Gespräch "verleiten" läßt.
Wer auch nur ein wenig von bewusster, kontrollierter Gesprächsführung versteht, weiß, dass es geradezu wahnwitzig ist, eine solch heikle und labile Gesprächssituation zusätzlich noch mit dieser klappernden Barriere zwischen den beiden Gesprächspartnern zu belasten. Der MPU-Psychologe weiß das natürlich auch, aber er hat keine Wahl mehr, will er von der Begutachtung leben können.
Die Gutachten machen jetzt zwar optisch sehr viel mehr her als früher, die Datenbasis, die ihnen zugrunde liegt, ist aber deutlich unzuverlässiger geworden.
Verschlimmbesserung 2: Das positive Gutachten
Die Lobbyarbeit von ADAC & Co. hat aber noch andere, weitaus fatalere Konsequenzen. Früher galt für den Gutachter die Regel: Negative Gutachten müssen ausführlich sein, damit sie "anwaltsfest" sind. Positive Gutachten dagegen darfst du ruhig kürzer halten, denn jeder der Beteiligten ist mit ihnen zufrieden: Der Kandidat freut sich auf den Führerschein und die Behörde ist froh, einen nörgelnden Kunden weniger zu haben.
Dann aber sind schlaue Behördenleiter - angestachelt von ganz besonders schlauen Psychologen - draufgekommen, dass die positiven Gutachten besonders umfangreich sein müssen, weil sie ja begründete Eignungszweifel widerlegen, also gegen die statistische Erwartung ("der Rückfall ist wahrscheinlich", lautet die statistische Erwartung) argumentieren.
Wer ein (ausführliches) negatives Gutachten bekommt, der muß dieses Gutachten nicht bei der Führerschein-Behörde abgeben. Der Antragsteller ist Auftraggeber des Gutachtens und er alleine entscheidet, was er mit diesem Gutachten anstellt. Das negative Gutachten bei der Behörde abzugeben bringt ihm keinerlei Vorteile. Das positive Gutachten dagegen muß er abgeben, will er den Führerschein wiederhaben. Gab er früher mit dem positiven Gutachten nur eine sehr vage Beschreibung seiner Lebensumstände und seiner (früheren) Alkoholverstrickung ins amtliche Archiv, so werden nun alle seine Angaben und die Schlüsse, die der Psychologe daraus gezogen hat in epischer Breite zur Kenntnis genommen und in der Führerschein-Akte aufbewahrt.
Damit ist der Führerscheinbewerber wieder ein Stück gläserner geworden. Und: Früher spielte das positive Kurz-Gutachten eine nicht unbedeutende Rolle in Zweifelsfällen, an der Grenze zwischen negativ und positiv. "Ach, laß ihn doch fahren", sagte sich der MPU-Psychologe, "da freut er sich. Er ist eh ein vom Schicksal gebeutelter armer Hund." Und der Psychologe freute sich auch, weil er sich durch ein positives Gutachten die Arbeit kürzer und damit angenehmer machen konnte.
Die Positivquoten der Gutachten sind im übrigen seither eher noch ein Stück weiter gefallen. Klar: Wenn ich als Gutachter viel schreiben muss, muss ich mir viele Gedanken machen und wenn ich mir viele Gedanken machen muss, fallen mir viele Sachen ein, die doch eher bedenklich sind ...
(1) Ein ganz, ganz wichtiger Punkt auch: Die Textverarbeitungsprogramme wurden effektiver.