In dem zurecht weitgehend unbekannten Internet-Blog "Fisch und Fleisch" fand ich folgende sensationelle Meldung: "Gürtelrose soll vermehrt auftreten. Es wird ein Zusammenhang mit Coronaimpfungen vermutet."
In Standarddeutsch übersetzt heißt das soviel wie "Ich habe nicht die leiseste Ahnung, was los ist, schreibe aber mal irgendwas hin.". Diese Art von Treppenhausrhetorik ist weit verbreitet, und das bereits seit vielen, vielen Jahrhunderten, lange vor dem Internet.
"Ham's scho ghört, Frau Nachbarin, dem Erwin seine Tochter soll ja jetzt mit einem (blickt um sich, ob auch keiner zuhört) Schwarzen [1] gehen. Es wird vermutet, daß er mit Drogen handelt."
Schenk uns bitte ein Like auf Facebook! #meinungsfreiheit #pressefreiheit
Danke!
A soll b gemacht haben heißt, ich werfe A etwas vor, habe aber keinen Beweis (oder auch nur Beleg) dafür und jeder weiß, daß es sowieso keinen Beleg gibt. Aber meine Behauptung bleibt im Hirn des Lesers hängen und wenn die Behauptung ausreichend oft [2] wiederholt wird, adelt sie sich schließlich im Hirn des Hörers zur Wahrheit empor.
Nicht, daß ich die "Kronenzeitung" täglich läse - es gibt Grenzen des Wahnsinns und gottlob schützen mich einige hundert Kilometer Donau vor den verhängnisvollen Sirenengesängen der Wiener Boulevardpresse. Gelegentlich aber werde ich von jemandem drauf aufmerksam gemacht, was in der "Kronenzeitung" gestanden hat und jedesmal - wirk-lich je-des-mal - greife ich in den schandbarsten Schlamm. Die Coronazeitung ist schlimmer als die BILD-Zeitung, und das heißt was.
In einem verlinkten Artikel aus dem Schmierblatte las ich: "Denn genau jener junge Mann (für ihn gilt die Unschuldsvermutung), der mit Van der Bellen und dem grünen Landesrat Anschober vor den Kameras stand, wird nun ein Fall für den Verfassungsschutz. Auf seiner Facebook-Seite soll sich der Flüchtling mutmasslich als Fan der libanesischen Terrororganisation Hisbollah gezeigt haben. Auch dem Iran-Regime sei er nicht abgeneigt."
Der Bundespräsident und Herr Anschober - wer immer Herr Anschober ist - standen mit einem Flüchtling vor den Kameras (aus welchem Anlaß immer). Jetzt - also geraume Zeit nach dem Phototermin - wird der junge Mann zu einem Fall für den Verfassungsschutz. Öha, das hört sich böse an. Der Flüchtling soll sich auf seiner Facebook-Seite - also öffentlich - als Sympathisant der Hisbollah gezeigt haben, also genau genommen: mutmaßlicherweise. Auch dem Regime des Iran sei er nicht abgeneigt. Also: Nix Gnaus weiß man nicht und selbst wenn's so wär, wär's harmlos, da im Rahmen der Meinungsfreiheit.
Als weiteres konkretes Beispiel für Tratschgeschichte und Treppenhausrhetorik nehme ich einen Bericht, der inzwischen jegliche tagesaktuelle Brisanz verloren hat.
Ein gewisser Gaius Sallustius Crispus hat vor mehr als 2000 Jahren von einer Verschwörung berichtet. "Meines Wissens glaubten manche Leute, daß die Jugend, die in Catilinas Haus verkehrte, sich in entehrender Weise schamlos benommen habe; das wußte zwar niemand zuverlässig, doch aus verschiedenen Gründen hielt sich dieses Gerücht."
Das ist Berichterstattung nach Art der Kronenzeitung: Er ist sich nicht sicher (1. Stufe des Gerüchts), ob manche Leute glauben (2. Stufe des Gerüchts), daß die Jugend ... sich ... schamlos benommen habe (3. Stufe des Gerüchts). Dann betont er noch mal, daß das alles wilde Gerüchte seien und zieht schließlich die Trumpfkarte: "Doch aus verschiedenen Gründen hielt sich dieses Gerücht." Ich weiß gar nichts, nicht mal ansatzweise, aber ich erzähl's euch halt mal.
Sallust gilt unter Altphilologen immer noch als lateinischer Klassiker und zitierenswerter Geschichtsschreiber. Es gilt das Grundsatz der Literaturgeschichtsschreibung: Je länger ein Schriftsteller bereits tot ist, desto nachsichtiger sind wir in seiner Beurteilung. "Mir ist es immer vorgekommen, als wenn man den Wert der Neuern gegen die Alten auf einer sehr falschen Waage wäge und den letztern Vorzüge einräumte, die sie nicht verdienen. Die Alten schrieben zu einer Zeit, da die große Kunst, schlecht zu schreiben, noch nicht erfunden war, und bloß schreiben hieß gut schreiben." (Georg Christoph Lichtenberg)
.
.
Und was die Macht des Gerüchtes betrifft, so sei an die Nachricht erinnert, es werde in Kürze auf dem Campus der Northeastern University in Boston eine Hochzeit unter freiem Himmel stattfinden.
Aber gut, es kann natürlich auch sein, daß der von mir zitierte Bericht selber ein Gerücht ist, dem Schema folgend "Amerikanische Wissenschaftler haben festgestellt...". Oder Levin hat vielleicht nur 9 Studenten befragt, wovon einer (also knapp 12 %) behauptet hat, er wäre bei der Hochzeit gewesen. Der Schelmereien sind viele denkbar, ich jedenfalls habe die Nachricht guten Glaubens weitergegeben.
[1] "Schwarzer" war damals in den Sechzigern die verächtliche Bezeichnung für einen Neger. Das neutral beschreibende Wort für einen sehr dunkelhäutigen Menschen afrikanischer Herkunft war "Neger".
[2] "Ausreichend oft" ist auch so eine aus sich selbst heraus bekräftigende Aussage, die letztlich gar nichts aussagt.