Warum auf dem Chefsessel so oft Pfeifen sitzen

Als Jakob Augstein mal wieder einen Chefredakteursposten für seine Wochenschrift "Der Freitag" zu besetzen hatte, nahm er einen Mann. Er wurde dafür her gerügt und antwortete: "Die Frauen, die ich gut fand und gefragt habe, wollten nicht. (...) Oder sie wollten keine Chefs sein?"

Ich schrieb ihm damals eine Art Leserbrief:

Diese Erklärung mag ehrgeizigen Menschen als sehr befremdlich erscheinen, mir erscheint sie plausibel.

Erstmalig ist mir die Problematik noch als Gymnasiast aufgefallen. Während meiner Schulzeit ging der Oberstudiendirektor in Pension und der neue kam von auswärts. Der hat dann kaum noch unterrichtet. Irgendwann kam mir der Gedanke, es müsse doch für einen guten Lehrer, einen, der gerne Lehrer ist, der absolute Alptraum sein, plötzlich die Leiter hochzufallen und Direktor sein zu müssen. Kaum noch Unterricht, stattdessen Verwaltungsarbeit, Leute durch die Gegend scheuchen, Kollegen disziplinarisch abmahnen, dem Ministerialdirigenten die Füße küssen. Schauderhaft. Eigentlich, so dachte ich damals, müßte eine umsichtige Kultusbürokratie die schlechtesten Lehrer (die als Lehrer schlechtesten, um genau zu sein) aussortieren und sie an die Spitze setzen, damit die wirklich guten Lehrer den Schülern erhalten bleiben.

An der Uni hat sich für mich an dieser Sichtweise nichts geändert. Was für ein Wahnsinn, einen exzellenten Wissenschaftler und/oder Hochschullehrer zum Rektor zu machen! Immerhin hat das Uni-System den Vorteil, daß dort einer nur Rektor auf Zeit wird, nachdem er seine Frist im Straflager abgesessen hat, darf er wieder zurück zur Wissenschaft.

Vom Betrieb in einer Zeitungsredaktion weiß ich zu wenig, um diese Gedanken auch nach dorthin zu übertragen, fürchte aber, daß es dort nur unwesentlich anders sein dürfte. Ein hartnäckiger, findiger Rechercheur, ein brillanter Kolumnist auf dem Chefredakteursstuhl - was für eine Verschwendung von Ressourcen.

Erträglich scheint mir ein Chefsessel für einen Journalisten/Lehrer/Wissenschaftler nur dann zu sein, wenn er ihn auf Zeit unter den Hintern geschoben bekommt und er dann wieder - ohne Prestigeverlust! - als normaler Journalist/Lehrer/Wissenschaftler weiterarbeiten darf.

Manchmal frage ich mich, ob die höheren Bezüge der Chefs in diesen Bereichen wirklich die Leistung honorieren oder sie nicht eher eine Art Schmerzensgeld sind.

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