Je weniger ein Mensch von alpinen Gefahren weiß, umso absoluter ist sein Urteil über Unfälle am Berg. Wieso? Weil wir glauben, die Natur zu beherrschen.
©Tom Rottenberg www.derrotenberg.com
Es ist eine Binsenweisheit beim Geschichten erzählen: Kenne dein Publikum. Wisse, was es weiß - und was du voraussetzen kannst. Sonst kann die schönste und positivste Geschichte rasch nach hinten losgehen.
Etwa wenn man vom Skifahren im Gelände spricht: Ich war ja - ich habe auf Fisch & Fleisch hier darüber geschrieben - im Februar in Georgien beim Heliskiiing. Und da hat Benni Raich eine Lawine losgetreten. Dabei ist niemandem was passiert - aber seither bekomme ich regelmäßig Mails von Leuten, die - im höflichen Fall - fragen, ob wir denn noch ganz bei Trost sind. Und - im so überwiegenden wie unhöflichen Fall - von „Wahnsinn“, „grober Fahrlässigkeit“, „Todessehnsucht“ sprechen. Und dann von „Strafen“ über „Verbieten“ bis „Einsperren“ Maßnahmen verlangen.
„Lustig“ wird es, wenn ich antworte. Und sage, dass bei diesem Stunt niemand einen Fehler gemacht hat: Weil nicht sein kann was nicht sein darf, kommen ab dann nur noch Beschimpfungen.
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Das Spannende: Je weniger Ahnung die Aufgeregten vom Bergsteigen, von alpinen Gefahren und vom Skitourengehen (ich fasse jetzt alles, was im Schnee im „freien Gelände“ passiert, so zusammen), umso absoluter sind die Urteile: Wir - Benni Raich, drei Bergführer, alle mit denen ich unterwegs war und eigentlich eh jeder, der die Piste verlässt - sind wahnsinnig. Gefährden nicht nur uns, sondern auch andere. Sollten … und so weiter.
Menschen die vom Berg eine Ahnung haben, hören zu. Fragen. Fragen nach. Und urteilen nicht. Weil sie zwei Dinge eines wissen und akzeptieren: Es gibt keine 100prozentige Sicherheit. Da ist immer ein Restrisiko. Am Berg - aber auch überall sonst im Leben.
Von wegen: "Macht Euch die Erde untertan"
Nur: Das will keiner hören. Oder wahrhaben: Wir leben in einer „Wir holen Dich da raus“-Illusion. Im Glauben an den großen Reset-Button. Und der Überzeugung, dass man alles beherrschen, kontrollieren, vorhersagen, ausschließen kann - und dass dann, wenn doch etwas passiert, immer jemand Schuld sein muss.
Geschichten mit L-Wort, also Lawinen-Stories, sind da perfekt: Je weiter weg vom Geschehen (räumlich wie inhaltlich) der Zuhörer ist, umso absoluter wird sein Urteil ausfallen. Schließlich passieren viele Bergunfälle ja aus einer Mischung aus Blödheit, Selbstüberschätzung und Wahnsinn. Also gilt im Umkehrschluss: Wir haben die Natur nicht nur durchschaut, sondern auch im Griff. Immer
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Sagen Sie mal wem „Bennni Raich, ja DER Benni Raich, hat eine Lawine losgetreten. Drei Tennisplätze groß. Und ich und eine Gruppe anderer standen in dem Hang.“ Jezt legen Sie eine bedeutsame Pause ein. „Das Geräusch, wenn so ein Hang abreisst und ins Rutschen kommt, vergisst man nicht mehr“. Pause. Luftholen. „Zum Glück ist keinem was passiert.“ Ausatmen. „Nein, auch dem Benni nicht.“ Mit der Vornamen-Nummer haben sie jetzt auch signalisiert, dass spätestens dieses Ereignis sie und den mehrfachen Olympia-, WM- und Weltcupsieger für immer zusammengeschweißt hat: Das Publikum ist emotional mit Ihnen jetzt hautnah am Star - und der Beinahe-Katastrophe.
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Diese Eröffnung löst aber auch den „Oh mein Gott! Wahnsinn“-Schauder aus. Darauf folgt: „Wie unverantwortlich ist das denn!?!“ Wenn ihre Zuhörer keine Ahnung vom Berg haben, war es das jetzt. Ab nun ist vollkommen egal, wie es weiter geht: Das L-Wort hat alles an Auffassungsvermögen, Verstehen- und Differenziert-Zuhören-Können mit sich gerissen. Und unter Tonnen von Schnee begraben.
Dabei wird es jetzt spannend. Denn in der - mehr als selbstkritischen - Analyse danach haben wir dann festgestellt, dass Raich, die Bergführer und wir halt wirklich alles richtig gemacht haben. Und nur dieses Richtigmachen Schuld daran war, dass keinem was passiert ist.
Der Vergleich
Vielleicht funktioniert es mit einem Vergleich: Man kannt an der Ampel 1000 Mal nur bei grün losgehen - wenn einer bei rot drüber rauscht, hat man dennoch schlechte Karten. Oder wenn einer ohne zu schauen auf die Autobahn auffährt, sich mit 160 zwischen zwei LKWs durchquetscht und auf die zweite Spur rauspfeift: Wer da mit 130 und regelkonform überholt, hat nix falsch gemacht - aber ein echtes Problem. Oder auf der Skipiste: Der Irre, der da einen auf Hahnenkammsieger macht und über die Kuppe schießt, während sie mit ihren Kindern Stemmschwünge üben … und so weiter.
Das ist „Restrisiko“. Man kann es durch Vor- und Umsicht zwar reduzieren, aber nie ganz auf Null senken. Nur: Würden Sie deshalb generell nicht mehr über die Straße gehen, ins Auto steigen, oder den Familienskiurlaub stornieren? Eben.
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Man versucht, zu reduzieren: Man fährt zum Beispiel im Gelände mit Sicherheitsabständen. Und nie in großen Gruppen. Die Abstände zwischen Skifahrern (oder Snowboardern) hängen von Art und Zustand der Hänge und des Schnees ab. Erstens soll/muss der Druck auf den Hang so reguliert/reduziert werden. Zweitens erwischt es im schlimmsten Fall nur einen. Oft fährt man deshalb auch einzeln von „Safe Spot“ zu „Safe Spot“.
Genau das taten wir. Obwohl dieser Hang auf den ersten Blick vollkommen harmlos wirkte: Eine 30 Meter breite Rinne zwischen zwei Kuppen. Die galt es zu queren. Der Hang war gar nicht steil: Ohne Bergführer wären wir wohl mit 15 Meter Abstand quer rüber gestochen.
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Aber - das lernt man im Grundkurs - nicht direkt in der Mulde oder Rinne abgefahren: Wo rutscht Schnee, wenn er rutscht? Eben. Also bleibt man dort, wo es „safe“ ist: Auf Kuppen und Rücken.
Gruppe eins (vier Skifahrrer plus Bergführer) ist schon durch. Einzeln gefahren. Wartet auf einem erhabenen Punkt auf ihren letzten Mann.
Gruppe zwei (wir) macht sich bereit. Unser Bergführer funkt zum Guide von Gruppe eins: Er solle warten, bis von uns alle bei ihm sind. Einzelfahren. Losgefahren wird, wenn der Vordermann „safe“ ist. Fad. Langwierig. Aber das ist eben so.
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Benni Raich fährt als dritter. Quert in Richtung Rücken gegenüber. Nicht in der Spur des Vordermannes. (So schneidet man wie mit einem Brotmesser den Hang ab.) Benni ist an der tiefsten Stelle vorbei - und es macht „Wumm“!
Wir kennen das Geräusch. Aus Videos. Oder von weit weg: Da friert dir das Blut ein. Aber das da ist nicht weit weg. Im Gegenteil. „Lawine!“ Schreit einer (als ob es nicht alle sähen). Dann „F-ck! Wo ist der Benni? Seht ihr ihn?“
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Zum Glück rauschen Lawinen zunächst langsam los. Wenn sich ein Brett löst, sieht das - kurz - aus, als würde es sich überlegen, ob es wirklich losfahren soll. Benni ist schon auf dem gegenüberliegende Rücken, als der Schnee ins Rutschen kommt. Er war auch schon bei der Auslösung knapp, aber eben doch, aus dem unmittelbaren Gefahrenbereich.
Dennoch: Dort, wo er gerade war - und auf einer mehrere Tennisplätze großen Fläche oberhalb - rutscht der Hang weg. Wie mit einem Keksausstecher gestanzt. Bis zum Almboden runter. Auf die erste Gruppe zu. Wird von Sekunde zu Sekunde schneller und größer.
Doch die Gruppe steht dort, wo sie steht, sicher. Instinktiv gehen dennoch alle rasch weieter - auf den höchsten Punkt des Rückens. Sekunden später ist es schon vorüber: Das Schneebrett rauscht mit 30 Metern Abstand vorbei. Keinem ist was passiert.
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Durchzählen. Sicherheitshalber. Alle da. Alles gut. Unser Bergführer fährt zur Abrisskante. „Ihr bewegt euch nicht!“ Rund um uns rumor der Berg: Setzungsgeräusche. Kein gutes Zeichen. Angst? Nein: Wir stehen hier gut.
Unser Bergführer, funkt: Auf keinen Fall nachkommen. Er fährt zu Gruppe eins, die fährt (hier ist es zu flach für Lawinen) ins Tal.
Wir stehen auf unserer Kuppe: Zum Hang hin ist wenig Platz - aber wenn wir ein bisserl Schaufeln, kriegen wir eine Pick-Up-Zone für den Heli hin. Der Pilot muss halt zeigen, was er drauf hat.Tut er dann auch.
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Nachher ist man immer klüger
Am Abend, im Hotel, dann die Analyse. Wo war der Fehler? Nachher ist man ja immer klüger. Nur: Da war keiner. Keiner, auf den man vorher kommen hätte können. Keiner, der vermeidbar gewesen wäre: „Kein Guide bringt sich oder Gäste absichtlich in Gefahr: Wir wollen ja selbst auch nach Hause kommen“, sagt der Chefbergführer.
Und dann kommt es, das Wort: „Restrisiko“. Das gibt es eben. Und das gilt es zu minimieren:
- Nicht durch sauteure Ausrüstung. Den Airbag hast du dabei - aber du willst ihn nie brauchen. Schon gar nicht, wenn du gesehen hast, wie unerbittlich sich Tonnen von Schnee ihren Weg bahnen. Und wie sie sich zu einem betonharten Haufen zusammenballen. Da drin sein? No way!
- Nicht durch die Notfallausrütung (Pieps, Sonde, Schaufel): Ohne gehst du zwar nicht - NIE! - ins Gelände. Du sollst - MUSST! - damit auch blind umgehen können. Aber: Die Vorstellung, in einen ächzenden Hang zu fahren, und nach Verschütteten suchen? Unter Zeitdruck? Nach 15 Minuten sinken die Überlebenschancen rapide. Nur: Da ist sonst niemand. Es kommt auch keiner. Nicht rechtzeitig: Du musst da rein. Das wünschst du deinem schlimmsten Feind nicht.
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Risikominimieren findet vorher statt. Vor der Katastrophe. Da geht es darum, alles zu tun, dass es nie nötig wird, Ausrüstung und Kenntnisse einsetzen zu müssen.
Darum, Gegend und die Gegebenheiten richtig einzuschätzen. Vor und während Tour und Abfahrt. An jeder Kuppe, an jedem Hang aufs Neue. Darum, „Nein“ sagen zu können.
Darum, nie zu vergessen: Der Berg ist immer größer, stärker und endgültiger. Der diskutiert nicht, warnt nicht und gibt keine zweite Chance. Bist du da - bist du weg.
Genau deshalb ist hier nichts passiert. Weil wir - Guides, Gruppe, Raich - dort, wo es in unserer Macht stand, alles richtig gemacht haben. Das hat mit Glück oder Hasardieren nichts zu tun.
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Schauen Sie sich die Bilder von der Abrissstelle und dem Lawinenkegel nochmal an: Das war alles andere als eine große Lawine. Abgang und Weg waren nicht spektakulär. Trotzdem: Die Dinger können töten.
Deshalb war das eine wichtige Lektion. Eine Lektion in Demut. Und darin, das Leben jeden Moment zu lieben und zu leben - weil es so etwas wie „absolute Sicherheit“ nicht gibt: Im Schnee genauso wenig wie im Alltag.
zum Weiterlesen:
http://www.derrottenberg.com/heliskiing-ein-trip-zur-grundsatzfrage/
Zur Geschichte von Heliskiing in Österreich:
http://diepresse.com/home/wirtschaft/international/4930167/Heliskiing_Der-Flug-zum-Schnee
Der Aufenthalt in Gudauri war eine Einladung von „Gudauri Heliskiing“
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