Nach dem Absturz der Germanwings-Maschine konnten wir weltweit sehr rasch ins Antlitz des unfassbar Bösen blicken. Bloß: Blöderweise war es der Falsche. Ein Kollateralschaden, der dennoch bezeichnend ist.

Ich wünsche dem falschen Piloten einen guten, aggressiven und international bestens vernetzten Anwalt. Möge er das, was Medienunternehmen nach dem Zur-Tat-Schreiten des Advokaten weltweit an Schmerzens-, Straf- und Schadenersatzkohle abdrücken müssen, in Gesundheit freudig auf den Putz hauen: Ich kenn ihn zwar nicht – aber ihm, dem falschen Piloten, sei es gegönnt. Und auch denen, die zahlen müssen. Als Exempel für das, was passieren kann, wenn sich einer gegen Verleumdung und Schnellschnell-Pfuschjournalismus wehrt, taugt es zwar – aber am Problem und am System, mit dem Trash-Medien alle Regeln von Anstand, Recherche und Verantwortungsgefühl über Bord geworfen haben, wird es nichts ändern: Solche Strafen sind einkalkuliert. Die zahlt die Portokasse. Und beim nächsten Mal macht man es wieder so. Und wieder. Und wieder.

Der Reihe nach: Als „falschen Piloten“ bezeichne ich jenen Mann, der im Zuge der Berichterstattung über den Absturz der Germanwings-Maschine in den französischen Alpen zu globaler Berühmtheit gelangte. Wie und warum der Unbeteiligte da von den Wellen der medialen Hysterie auf der Suche nach dem (echten) Co-Piloten, der allem Anschein nach 149 andere Menschen mit in seinen Selbstmord gerissen hat, ins Zentrum der weltweiten „Wir haben ihn“-Schreierei geraten konnte, tut nichts zu Sache.. Fakt ist, dass da plötzlich einer als „identifiziert“ galt _ und die Schnellfeuer-&-Gülle-Presse keine Sekunde zögerte oder nachrecherchierte: Bild (und Namen) des „Wahnsinnigen“ wurden sofort in die Welt geblase. Unverpixelt. Auf Seite eins. Weltweit - auch in Österreich: https://www.facebook.com/kobuk/photos/a.449459887970.238081.282064592970/10153687703872971/?type=1&theater.

Der Haken an der Sache: Es war der Falsche. Und das wird - hoffentlich - teuer. Denn: Wie kommt ein Unbeteiligter dazu, sich des 149-fachen Mordes bezichtigen zu lassen? Und: Wie seine Familie?

Stellen Sie sich vor, Sie wären Mutter, Vater, Bruder oder Schwester dieses Mannes. Sie sitzen friedlich an ihrer Supermarktkassa (oder im Beisl) - und plötzlich baut sich vor ihnen eine Wand aus Menschen auf. Dann geht es los: „Ihr Sohn! Der Mörder! Schämen Sie sich nicht …“ Das ist der Anfang. Und die „zivilisierte“ Version: Wir wissen, wie Menschen funktionieren, wenn sie „Schuldige“ suchen. Sippenhaftung ist ein schönes Ventil.

Oder stellen Sie sich vor, Sie sehen das Bild ihres Kindes in den Medien. Mit dem Etikett „Mörder“ und „Selbstmörder“ - und haben (warum auch immer) keine Chance, ihn zu erreichen. Dieses Gefühl - das verdient niemand.

Und zwar auch nicht die Mutter des „echten“ Piloten.

Ach, Sie meinen, es sei doch Aufgabe und Recht der Presse - und obendrein  wichtig - umfassend zu berichten? D´accord. Ganz bei Ihnen. Aber: Welche Rolle spielt es da, ob der Mann Günther, Gernot, Albert oder Xaver heißt? Wie sein Nachname lautet. Wie sein Haus, sein Auto, sein Garten (und das seiner Eltern) von außen aussieht? Macht es dieses Wissen leichter, zu verstehen, was er getan hat? Warum er es tat? Was ihn trieb?

Muss ich das Gesicht des Mannes, der da - vermutlich, denn ohne „echte“ Auswertung der Flugdaten bleibt da immer noch ein Hauch Unsicherheit, auch wenn das nicht ins mediale Konzept des „wir wissen es schneller als der Mitbewerber“ passt - aus eigenen Stücken ein Passagierflugzeug gegen den Berg knallen ließ, tatsächlich in HD sehen?

Machen es irgendwelche Urlaubs-, Schul- und Partyschnappschüsse mir, Ihnen, dem Publikum verständlicher, was diesen Mann so weit gehen ließ? Wenn ja, dann hatte jenes Boulevardblatt, dass in Österreich einmal in einem gänzlich anderen Fall unter ein Bild eines Verdächtigen „ein Gesicht wie ein Geständnis“ schrieb, doch recht: Dann kann man Menschen ansehen, ob sie Kinderschänder, Taschendiebe, Heiratsschwindler, Frauenschläger sind? Oder eben verrückte oder verlässliche Piloten? Großartig!

Ganz im Ernst: Ich lasse es mir - eventuell - noch einreden, dass es den Verwandten der Verunglückten hilft, zu wissen, wer da am Steuer saß. Aber nicht einmal da bin ich mir sicher: Ich kann mich - Gott sei Dank - in die Lage einer Mutter, deren Kind nicht von der Sprachreise zurück gekommen ist, nicht hinein versetzen. Aber dass es ihr beim Verkraften des Unverkraftbaren hilft, zu wissen, ob der - aus ihrer Sicht selbstverständlich - „Mörder“ glattes oder krauses Haar hatte, bezweifle ich: Es geht um das Warum. Um das Wieso. Um das Wie - und vor alle darum, wie man nach so etwas weiter lebt. Spielt da „Andreas, Herbert, Martin oder Rodrigo?“ tatsächlich eine Rolle?

Da ist noch etwas: Die Verwandten des „echten“ Piloten. Keiner von denen saß im Cockpit. Keiner hätte die Tat verhindern können. Trotzdem: Das war der eigene Sohn. Der eigene Bruder.

Wie würden Sie mit diesem unerträglichen Wissen umgehen und leben? Könnten Sie das einfach wegstecken? Und jetzt stellen Sie sich vor, Sie versuchen es. Gehen - nach Wochen oder gar Monaten - in den Supermarkt. Ins Büro. Ins Kaffeehaus. Weil das Leben weiter geht. Weiter gehen muss. Und dann steht jedes Mal einer da: „Sind Sie nicht die Mutter … ?“

Darum: Siehe ganz oben. Auch wenn es nichts ändern wird.

Fotocredit: Fotolia, © ra2 studio

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