Der Flügeltoni aus dem Kaunertal

In Nufels, einem kleinen Dorf im hintersten Winkel des Tiroler Kaunertals, lebt ein Holzschnitzer und Bergbauer, der Flügel sammelt. Und auch auf ihnen spielt.

Bevor ich anfange, möchte ich mich gleich mal entschuldigen. Weil ich eh weiß, dass die Bildqualität unter jeder Sau ist. Nur: Das war nicht anders möglich. Doch vor die Wahl gestellt, Ihnen gar keine oder „grieselnde“, verwackelte und - höflich formuliert - unterbelichtete Bilder und Videos von Toni Wille zu liefern, hab ich mich für Zweiteres entschieden.

Andererseits: So viel versäumen Sie nicht. Zumindest bei den Videos: Ein Klavier sieht von unten nicht besonders aufregend aus. Und wenn man unter einem Klavier liegt und das iPhone auspackt, um ein bisserl mitzufilmen, ist es wurscht, ob die Bilder von der Unterseite des Flügels unter-, über- oder gar nicht belichtet sind: Schauen Sie mit den Ohren. Um die geht es hier nämlich viel mehr, als um die Augen.

Toni Wille hat mich nämlich unters Klavier geschickt. „Da klingt jeder Flügel am besten“, erklärte er mit einer Stimme, die keinen Widersprich dulden würde. Dann setzte sich Wille an ebenjenen Flügel, wartete, bis ich verschwunden war - und begann zu spielen.

Ich war nicht der erste, den der Tiroler Holzschnitzer und Bergbauer da unters Klavier geschickt hatte: Auf ein paar Decken lag da ein Polster - und als ich es mir gemütlich eingerichtet und mich von meiner Überraschung ein bisserl erholt hatte, erkannte ich: Wille hatte recht. Der Flügel klang hier unten tatsächlich besonders. Wärmer. Weicher. Unmittelbarer. Lebendig. Intim. Authentisch.

Dass ich jetzt nicht mehr weiß, welcher der sieben oder acht Flügel im Raum es war, unter den mich „der Toni“ gesteckt hatte, liegt an meinem musikalischen Unvermögen. Aber auch an Toni Willes

Wille zum Erzählen: Wenn es um Flügel geht, kennt er nix. Keine Gnade, kein Halten - und kein „Genug“. Weder beim Sammeln - noch beim Erzählen: Hätte ich nicht zu einer Notlüge gegriffen, läge ich vermutlich immer noch unter einem der Flügel des Mitfünfzigers. Und: Würde Tonis Freundin Annemarie nicht mit dem Auszug aus dem Bergbauernhof in Nufels - einer kleinen Gemeinde im Tiroler Kaunerval drohen - würde Toni Wille vermutlich immer noch einen und noch einen und noch einen Flügel anschleppen. Weil er die Dinger halt sammelt. Liebt. Restauriert. Und sie auch spielt. Mehr als einfach nur gut.

Im Kaunertal ist Anton Wille deshalb eine Berühmtheit. Natürlich lächeln die Leute ein bisserl, wenn sie Besuchern und Gästen „vom Toni“ erzählen - und sagen, dass man ihn doch besuchen fahren möge. Aber lächeln mit einer gehörigen Portion Stolz: So schräg es anmutet, dass da einer, der, wenn er mit Nachbarn und Freunden spricht, auch für einen im Bergdialekte-Verstehen über die Jahre ganz gut geschulten Wiener völlig unverständlich ist, angeblich 15 (manche sagen auch 25) Flügel am Hof hat, ist es halt auch etwas Besonderes. Weil Anton Wille ein besonderer Typ ist: Als Bub begann er als Autodidakt Harmonika zu spielen, als Volksschüler kam er dann zum Klavier. Und seither nicht mehr davon weg - aber eben auch nicht dauerhaft aus Nufels. Nicht, dass es an Angeboten und Möglichkeiten gemangelt hätte: „Ich kenne so viele Pianisten, die durch die Welt reisen. Aber ich wollte nicht aus dem Koffer leben.“ Und wenn der Klavierspieler nicht zum Konzertsaal kommt, muss er Konzertsaal eben …

Aber ich greife vor. Weil der Toni zuerst einmal ein paar Flügel sammeln musste, bis er einen Grund hatte, ein „Flügelhaus“ zu bauen. Und ein paar seiner schönsten und unterschiedlichsten Klaviere dort auszustellen - und zu bespielen.

Wie, wann und warum das Sammeln begann, ist eigentlich gar nicht so wichtig. Natürlich können Anton und Annemarie darüber stundenlang und mit 1000 Zahlen und Details erzählen. Am liebsten während sie mit einem Gast in der Stube sitzen, der Dauerbrandofen seine tropische Hitze verströmt, Kanne auf Kanne Filterkaffee gemacht wird und die 14 Hauskatzen schnurrend um die Sesselbahn schnüren, es sich auf Bänken und Anrichten gemütlich machen - und das Gesetz definieren, dass Musik- und ganz besonders Klavierliebhaber auf gar keinen Fall Katzenallergiker sein dürfen.

Bevor es ins Flügelhaus geht, ist das Stubenhocken mit Kaffee, Katzen und Kuchen Pflicht. Und stimmig. Weil die Diskrepanz zwischen Anblick und Text die beste Einstimmung auf das ist, was dann kommt: Anton Wille passt optisch und akustisch perfekt in dieses rustikal-klassischer Stuben- und Heimatsetting.

Aber der Mann mit dem leicht fusseligen Pulli und dem eben gar nicht hipstercool-unrasierten Bart redet über Dinge, die nicht in diese Stube passen: Flügel. Klaviere.

Er spricht über Bespannungen, Anschlagstärken, Mechaniken, Werkstätten, Hersteller, Konzerthäuser, Stimmungen, Komponisten, Virtuoesen, Dirigenten, Orchester, Werke, Jahreszahlen, Tonarten. Über große und größere Pianisten. Und über Epochen und Dynastien von Klavierbauern, die unterschiedlichen Charaktere, Vorzüge und Schwächen von Flügeln verschiedenster Zeiten. Von synthetischem und authentischem Klang, dem Verzweifelt der Asiaten auf der Suche nach dem Klang von Holz, von Obertönen, Schwebungen, Pedalen und Lacken - und wie das alles zusammenspielen muss, wenn man mit dem richtigen Flügel das richtige Stück spielen will. Weil das sonst einfach nicht stimmt. Stimmig ist. Egal, wie gut man spielt.

Zu Mozarts Zeiten, referiert der „Flügeltoni“ während er fast gleichzeitig einen so richtig derben Bergler-Witz einschiebt, war ein Flügel mit deutlich weniger Saiten bespannt, als heute. Die Anschlagsstärke der einzelnen Taste lag rund zehn Gramm unter dem heutigen Druck. Und statt einem Stahl- hatte das Ding einen hölzernen Rahmen. Ein Klavier-Purist wie der Flügeltoni seufzt dann, wenn er davon erzählt, wie Mozart klingt, wenn er auf einem Klavier gespielt wird, das nicht „passt“. Weil es nicht authentisch ist. Egal, wie großartig der Interpret sein mag.

Aber die Leute, weiß der Toni, kennen die Unterschiede halt nicht. Wie auch? Wie sind wo wollen sie denn den hören? Dann springt er auf, sagt Annemarie, dass sie dem Gast bitte noch einen Kaffee einschenken soll - und er jetzt das Flügelhaus vorbereiten geht. Zehn Minuten später klopft er von draußen an die Scheibe - und bittet hinaus: „Das dort ist mein Flügelmuseum.“

Das Haus hat er selbst gebaut. Es hat - annähernd, aber das sieht man nur, wenn man es weiß oder von oben - die Form eines Flügels. Eine der Wände wird von einem riesigen Findling dominiert. Toni zeigt auf ihn - und ist auf alles Andere hier umso stolzer: Weil er es geschaffen hat. Zusammengestellt. Gesammelt. Restauriert. Und in Szene gesetzt: Drei oder vier Sesselreihen stehen da - und Flügel. Sieben. Glaube ich. Es können aber auch fünf sein. Oder acht. Beleuchtet mit ein paar gedämpften Lampen - und Kerzen. Schön - aber der Horror jedes Bildermachers ohne Profiausrüstung. Der Flügeltoni denkt nicht in solchen Kategorien: „Der Flügel hier ist ideal für Beethoven. Der dort für Liszt und Schuman. Das ist das wohntemperierte Klavier für nach. Und hier …“

Plötzlich steht da ein andere Mann: Im gleichen Pulli. Mit den gleichen Bartstoppeln, dem gleichen Dialekt und der gleichen Geschichte - aber wenn der Flügeltoni statt in der Stube zwischen den Katzen im Flügelhaus zwischen den Klavieren steht, ist das der Beweis, wie Setting und Set die Botschaft verändern, die beim Zuhörer ankommt.

Dann lacht der Toni. Und sagt, dass man Klaviere doch hören muss. Dann  schickt er mich nach unten. Auf den Boden. Unters Klavier. „Weil da jeder Flügel am besten klingt.“

Da liege ich jetzt also. Und höre, wie der Toni spielt. Und spielt. Und spielt. So, als hätte er mich vergessen. Ich nehme das iPhone raus - und filme in die Dunkelheit. Das Bild? Vollkommen wurscht: Wenn sie die „griaßlaten“ Bilder stören, haben sie nix kapiert. Das ist dann aber Ihr Problem. Nicht meines. Und schon gar nicht das vom Toni.

Anton Wille hat weder ein eigene Homepage, noch einen Facebookaccount oder eine Mailadresse.

Man findet ihn aber trotzdem. Und er freut sich über Besucher.

http://www.kaunertaler-gletscher.at/de/planen_buchen/region/kunst-kultur/fluegelmuseum

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Claudia Braunstein

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