Laufen ist ein „sauberer“ Sport. Deshalb ist es gleich doppelt verwerflich, wenn man irgendwo anders, als vor der eigenen Haustür rennt. Sagen zumindest die öko-correctness Taliban. Ich sei ein Schwein. Ein gewaltiges. Meinte der Poster. Im übertragenen Sinn. Weil er das natürlich so nicht sagte. Obwohl er doch aus der Sicherheit der Anonymität mit der für namenlose Poster so typischen Selbstgerechtigkeit sein Urteil fällte.

Der Heckenschreiber geißelte mich. Mein Verhalten. Das sei nämlich letzte Sau. Unverantwortlich. Ein Affront gegenüber jedem und jeder, der versuche, sich nicht mit vollem Einsatz an der Vernichtung des Planeten zu beteiligen: „42 km Laufleistung auf 13.600 km Flug. Eh sportlich!“ Anklage ist Urteil. Das ist das Schöne am Posten im Netz: Wer hinhaut, hat Recht ­– weil Rechtfertigen immer hilflos wirkt.

(Das ist – ganz nebenbei – auch eine der ersten Botschaften, die jeder Medien-Coach einem Gecoachten mitgibt. Ich habe das lange verweigert, aber mittlerweile coache ich selbst auch so: Nie auf einen Vorwurf mit einer Erklärung oder Rechtfertigung eingehen. Das riecht nach Schwäche. Und öffnet eine Front fürs Nachhaken. Weil eine detaillierte Erklärung nie so platt-populistisch rüberkommen kann, wie der pauschal-brüsk-ansatzlos hingerotzte Vorwurf. Darum gewinnen Populisten immer: Die einfache Botschaft sticht – egal, ob sie stimmt. Das einfachste Gegenmittel: Gegenangriff. Persönlich und untergriffig. Schlammcatchen. Genau deshalb schaue ich mir politische TV-„Debatten“ nicht mehr an. Aber ich schweife ab. Ich bin ja hier, um übers Laufen zu reden.)

Es ist nämlich so: Kommenden (wenn Sie das lesen: diesen) Sonntag laufe ich den Marathon in New York. Zumindest habe ich das vor – denn dazwischenkommen kann da immer was. Darin bin ich Spezialist. New York hat einen großen Vorteil: Es ist eine geile Stadt. Und auch einen immensen Nachteil: Mit dem 13A komme ich nicht hin. Zwischen Skodagasse und Time Square liegen ein paar Kilometer. Blöd. Aber das macht es spannend. Und mich angreifbar.

Denn natürlich hat jeder postende All-in-One-Ankläger-Richter-Henker Recht, wenn er feststellt, dass 42 Kilometer immer 42 Kilometer sind. Egal, ob ich die Donauinsel rauf und runter jogge, in Takatukaland mit Pipi Langstrumpf den Strand entlanglaufe – oder in New York versuche, die klassische Langstrecke zu schaffen.

Die Insel kenne ich. Sie ist fad. Takatukaland (und Pipi) würde ich sofort besuchen – wenn mir wer sagt, wo ich hin soll. Bleibt New York. Dass es dort einen Marathon gibt, weiß nicht nur ich: NY42 ist unter allen attraktiven und begehrten Marathons des Planeten der begehrteste und beliebteste. Und überlaufenste: Um an einen der etwa 50.000 Startplätze zu kommen, würden viele Menschen eine Menge tun. Bloß: Das, was einen Startplatz garantiert, können die wenigsten. Sehr schnell laufen nämlich – aus Hobbyläufersicht: Ich glaube, das Limit liegt derzeit bei zwei Stunden und 45 Minuten. In diesem Leben schaffe ich das nicht mehr. So, wie das Gros der Läufer dieser Welt.

Darum spielen die Veranstalter ein Spiel. Lotterie. Doch in der stehen die Chancen gezogen zu werden mehr als schlecht: Gut 500.000 Kandidaten (und -innen) wären bereit und willig – doch wer glaubt, dass die Chancen auf einen Platz bei 1:10 liegen, irrt: Es gibt ja noch diejenigen, die schnell genug sind. Dann echte Weltklasseläufer. Und Startplätze, die Sponsoren zugerechnet werden. Und Reisebüros.

Denn um das Feld international und bunt zu halten, braucht man Läuferinnen und Läufer aus aller Welt. Irgendwie logisch. Damit „aus aller Welt“ auch stimmt, werden Startplatzkontingente für einzelne Länder reserviert. Und an Reiseveranstalter verkauft: Sportreisen boomen. Wenn also jemand – so wie ich – in New York laufen will, geht er in eines jener Reisebüros, die diese Trips anbieten. Dort gibt es zum Startplatz auch Hotel und Flug. Im Package.

Nicht nur für New York - sondern für alle der „Big Six“, also die sechs prominentesten Läufe der Welt (London, Berlin, Tokio, Boston, Chicago und New York). Und für de facto jedes andere Laufevent – egal wo auf der Welt: „Was viele Läuferinnen und Läufer schätzen, ist das Carefree-Paket: Sie können sich voll auf den Lauf konzentrieren – alles Organisatorische übernehmen wir“, erklärte mir Andreas Perer einmal, wieso dieses Werkel in den letzten Jahren immer besser und lukrativer funktioniert. Perer ist bei "Runners Unlimited" für exakt dieses Segment zuständig. „Es ist eine Win-Win-Sache“, ist der ehemalige Leistungssportler überzeugt.

Aber das sehen eben nicht alle so: „42 km Laufleistung auf 13.600 km Flug. Eh sportlich.“ Die Korrektur, dass es immerhin 42,192 Kilometer sind, schwächt die Botschaft nicht ab. Und ich mache mir jetzt auch nicht die Mühe, Kerosinmengen, Co2-Emissionen, Treibhauseffekt oder andere Umweltfolgen meines Trips auszurechnen. Weil eh klar ist: Auf der Donauinsel wäre all das irrelevant. Da fährt die U-Bahn hin. Oder mein Fahrrad. Aber New York? Ein Transatlantikflug ­– nur um zu laufen? 13.000 Kilometer fossile Energieträger verheizen, um einen „grünen“ Sport auszuüben? Wie dekadent! Wie überheblich! Wie erste Welt! Wie arrogant! PFUI!

Brav gedrillt, immer einzusehen, dass man sich für das, was man tut, zu schämen hat, wenn man dabei Spaß hat, hat beim Lesen dieses Postings auch sofort der antrainierte „Also irgendwie hat der Mann schon auch recht!“-Reflex eingesetzt. (Zugeben: Ich brauche kein Posting eines Anonymlings, um mir Gedanken über derlei zu machen: Wenn ich zum Skitourengehen nach Norwegen oder Island fliege, poppt die Frage, ob das jetzt wirklich so viel „grüner“ ist, als ein paar Heilski-Tage in der Schweiz, in Italien, in den Pyrenäen oder im Kaukasus  ganz von selbst auf.)

Aber wissen Sie was: Ich steh dazu. Ja, ich fliege 13.000 Kilometer, um dann 42 Kilometer zu laufen. Weil es geil ist. Weil es schön ist. Weil es mir Spaß macht. Obwohl ich weiß, dass die Welt untergeht – und natürlich auch der kleinste Beitrag, das zu verhindern, zählt.

Aber ich sehe nicht ein, wieso ich mich stellvertretend für Zigtausende Pauschaltouristen, die ohne eine einzige Sekunde zu zögern, ein- oder zweimal im Jahr irgendwohin fliegen, um in austauschbaren Clubs mit absolut irren Wasser- und Energiemanagement, einen nicht reparablen Öko-Fußabdruck zu hinterlassen. Muss ich mich wirklich stellvertretend schämen und genieren?

Es ist so leicht, aus der Deckung der Anonymität den guten Menschen zu markieren. Und ich weiß natürlich nicht, ob mein Kritiker nicht vielleicht tatsächlich jeden seiner Urlaube als reinen Wandertrip anlegt. Wenn dem so ist – und es ihn glücklich macht –, ziehe ich meinen Hut und zolle ihm Respekt. Aber ich hege da so meine Zweifel. Ich habe schon viele Scheinheilige kennengelernt – aber nur sehr wenige heilig. Und von denen ist keiner auf andere losgegangen.

Ganz abgesehen davon finde ich Posting-„Diskurse“ trotzdem fein. Irgendein anderer Poster antwortete dem „Alles was Flügel hat, ist böse“-Taliban mit einer Retourkutsche, die so schlicht und einfach – und unschlagbar – war, dass sie mir nie eingefallen wäre: „Wahrscheinlich sind das 40km mehr als die meisten anderen NY-Touristen!“

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