Die gelben Taschen von der Buchmesse

Auf der Frankfurter Buchmesse gibt es Bücher. Millionen Bücher. Und 5000 Plastiktaschen. Sie sind seit zehn Jahren das begehrteste Souvenir der Messe.

Früher einmal wollte man die Leute noch erziehen. Ein bisserl zumindest:. Zu den Mindeststandards der durchschnittlichen Höflichkeit. Deshalb gab es eine Zeit, in der Langenscheidt-Mitarbeiterinnen auf Podesten standen und erst losließen, wenn da eine Zehntelsekunde lang Augenkontakt bestand. Und eigentlich hätten sie auch auf „Bitte“ und ein „Danke“ pochen sollen.

Aber: Das haben sie sich bei Langenscheidt mittlerweile abgeschminkt. Weil Messebesucher aus einem anderen Holz geschnitzt sind. Messebesucher sind eben keine Kinder. Und schon bei denen löst das Beharren auf „Benehmen“ nur eines aus: Widerstand. Und Trotz.

Trotz-Reaktionen sind das letzte, was Marketing- und PR-Leute wollen. Darum haben sich die bei Langenscheidt vor ein paar Jahren auf das besonnen, worum es geht. Ums Sichtbarmachen der Marke. Nicht um Manieren. Deshalb lassen sich die Damen (und Herren) von Langenscheidt auf der Frankfurter Buchmesse anrempeln und herumschubsen - und zucken nicht einmal mit der Wimper, wenn sie angeblafft oder -gebrüllt werden, dass das „so nicht geht“. Oder „eine Sauerei“ ist. Oder man „sich beschweren“ werde. Wenn nämlich keine Taschen da sind. Plastiktaschen. Gratisplastiktaschen.

Die Plastiktaschen des Wörterbuchverlages sind Klassiker. Auch, weil es sie nur hier, auf der Buchmesse, gibt: Andere Verlage und Medienhäuser werfen mit Papiertaschen um sich. Taschen,  die zum einen - ob der Masse an Prospekten und Foldern - spätestens im Nieselregen vor und zwischen den Hallen reissen. Oder die nach der Messe bestenfalls noch Altpapiersammelbehälter werden.

Aber Langenscheidt setzt auf Plastik. In der Kombination aus bewährter, unkaputtbarer Ikeataschenqualität, vernünftigem, alltagseinkaufstauglichem Packvolumen und quietschgelbem, wiedererkennbarem Langenscheidt-Branding: Seit 2005 gibt es sie, die Langenscheidt-Tasche auf der Frankfurter Buchmesse. Und praktisch seit dem ersten Jahr, seit dem ersten Verteiltag, steht das L für „legendär“: Versierte Buchmessegeher wissen, dass die Taschen immer wieder und rasch aus sind - darum ist „Halle 4, Erdgeschoss, Vorneuntenrechtsinderdrittenoderviertenreihe“ für viele Messebesucher die erste Adresse.

Zum einen, weil man nur so ein Behältnis hat, dass auch hält, was man noch zusammenraffen wird. Zum anderen, weil die Langenscheidts geizig sind. Geizig sein müssen - wenn sie nicht schon am ersten Vormittag des ersten Messetages alle Vorräte aufbrauchen wollen.

Schließlich geht darum, Logo und Marke im gleichförmig-grauen Gewühl als Farbpunkt präsent zu halten. Nicht nur am Stand - sondern auf und während der ganzen Messe. Wenn da die Horden anrücken und Taschen fordern, muss man schlau sein. Haushalten: Die Buchmesse dauert fünf Tage. Lockt 270.000 Besucher. Das ist kein Geheimniss. Aber  - und das ist eines - es gibt nur 1000 Langenscheidt-Taschen. Pro Tag.

Darum sind sie heiß umfehdet. Wild umstritten. Sammlerstücke eben. Belege der Zugehörigkeit zu einem exklusiven, limitierten Club. Den abseits der Messe überhaupt zu erkennen schon Zugehörigkeit zu einem erlesenen Zirkel dokumentiert: Das erstaunte Zwinkern in der Supermarktschlange, der zweite Blick in Bus oder U-Bahn. Das Lachen des Junglehrers, der mit seiner pubertierenden Klasse auf Exkursion ist und jetzt von der Studienfahrt nach Frankfurt erzählt: Was auf der Messe selbst bloß eine praktische Trophäe ist, wird jetzt zur Ikone. Zum Ausweis. Zur Reliquie: Die zu verehren ist auch im kirchlichen Kanon jenen vorbehalten, die wissen. Und glauben.

Doch vorher gilt es, zu erhaschen. Zu erwerben. Und wenn die Langenschdeits bedauernd beteuern, dass es derzeit eben einfach keine Taschen am Stand gibt, sind List, Tücke und Strategie gefragt: Drüben tobt einer. Hier schimpft eine. Dort ortet einer Mobbing gegen sich. Eine schwingt - weil zwei Männer mit Taschen vorbeigehen - tatsächlich die Gender-Keule. Und ein Wichtiger im Dreiteiler droht mit Anrufen, Mails und Beschwerden „ganz oben“.

Die Langenscheidts aber bleiben stoisch. Ruhig. Sie beteuern höflich und beharrlich: „Sorry, no bags.“

Und während sich alle aufplustern, Wichtigkeit und Richtigkeit just ihres Pochens auf das Recht auf ein Geschenk lautstark und intensiv betonen und herausstreichen, kommt ein kleines, unscheinbares Männlein um die Kurve. Wartet. Grüßt. Fragt. Nickt. Sagt dann „Schade, aber das verstehe ich.“ Und fragt dann, ob man ihm vielleicht jetzt schon sagen könne, ob oder wann wiederkommen Sinn machen würde. „Bitte“.

Das routinierte Messe-Lächeln der Frau am Langenscheidt-Stand wird plötzlich echt. Sie sagt „einen Augenblick“. Geht nach hinten - und kommt mit einer Tasche zurück. Das Männlein strahlt. Freut sich wirklich. Sagt drei Mal „Danke“, schüttelt Hand und geht.

Die, die in diesem Augenblick ringsum grüngelb anlaufen und dann explodieren, werden nie verstehen, was da gerade geschehen ist. Und warum.

Fotocredit: Uschi Braun

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