Die Schwelle des Todes

Eigentlich wollte ich mich ja mokkieren. Mich über Kleingeister lustig machen. Ihnen den Spiegel vors Gesicht halten. Miesepetrigen Schlechtredern mit einem überlegen-souveränen Lächeln den Wind aus den Segeln nehmen. Eigentlich. Aber dann hat es mich auf die Pfeifen gehaut. Hm …

Die Sache ist nämlich die, dass die Verlierer der MaHü-Volksbefragung schlechte Verlierer sind. Und sich bis jetzt nicht damit Abfinden wollen, dass Wien sich langsam, ganz langsam, in Richtung jener Metropolen bewegt, in denen das Auto nicht mehr das Maß aller Stadtplanung ist und das Recht auf einen Blechabstellplatz im öffentlichen Raum immer obisegt, sondern Menschen & Lebensräume … aber ich verzettle mich.

Denn es ist wie es ist. Seit die Mariahilfer Straße aussieht wie eine Fußgängerzone, ist sie eine. Die Zahl der sie illegal und ignorant befahrenden Autos (mit Wiener Kennzeichen) ist mittlerweile auf homöopathische Dosen gesunken. Gejammert wird trotzdem. Weil die „MaHü“ für Fussgänger angeblich lebensgefährlich ist.

Ob es tatsächlich die Wiener VP war, die den Begriff  „Todesschwelle“ prägte, kann ich nicht nachvollziehen. Und da Recherche einem die schönste Geschichte kaputt machen kann, lasse ich das einfach so stehen:  Zum emotionalen Gesamtauftritt der schrumpfenden Stadt-Schwarzen und ihrem Verstehen, wie urbanes Bürgertum heute tickt, würde es passen. Aber vielleicht tue ich grad wem Unrecht.

Jedenfalls stand plötzlich die „Todesschwelle“ im Raum. Weil sich am oberen Ende der Fußgängerzone - Ecke Andreasgasse/Mariahilfer Straße - angeblich Stürze, Ausrutscher und Stolperer häufen. Glaubte man dem, was in ein paar Foren stand, liegen dort Gestrauchelte und Verletzte übereinander - und die Rettung kommt mit dem Abtransport nicht nach. Weil sich laufend neue Unfälle ereignen: Offene Brüche, Schmerzensschreie - und im knöcheltief den Boden bedeckenden Blut übersehen beständig weitere Menschen die Falle. Die Schwelle. Darum: Todesschwelle.

„Klingt wie Solferino“, lachte ein Freund - und schlug vor, uns „die Wiener Isonzo-Schlachtfelder“ anzusehen.

Vor Ort lachten wir: Die „Schwelle“ ist eigentlich gar nicht da. Sie ist kaum einen halben Zentimeter hoch - und markiert den Übergang der „Begegnungszone“ zur Fußgängerzone. Im Grunde zeichnet sie nur den Wechsel der Bodenbelags-Struktur nach. Und - eh klar - von den Horrorbildern der kolportierten Meinung der üblichen Verdächtigen war keine Spur.

Ebenso eh klar: Da hatten ein paar Leute die Meinung, die wir von ihnen schon lange haben, schön bestätigt. Gut so. Wir grinsten zufrieden - und wollten gehen. Als wir den Fluch hörten.

Da lag einer auf den Knien. Kein altes Weiblein. Kein gebrechliches Männlein. Einer in unserem Alter. Das Handy in der Hand: Den Nichteinmal-halben-Zentimeter hatte er übersehen - und zack. Er schaute verschämt: „Oops!“ Ok, ein Stolperer - aber macht das eine „Todesschwelle“?

In den nächsten Tagen schaute genauer: Keine Verletzungsorgie, klar. Aber hin und wieder verstolperte sich schon wer. Meistens Leute, die grad wichtig Sms-ten, telefonierten oder aßen. Ich hörte eine Melodie im Kopf: „Augen auf, Ohren auf - Helmi ist da …“ und war fast schadenfroh.

Bis es mich erwischte. Handylos, mit freien Händen: Ich hatte mit wem gequatscht, schaute nicht - und mein Schritt hätte zehn, vielleicht 15 Zentimeter weiter geendet. Blöderweise war da eben ein halber Zentimeter Wasauchimmerstein im Weg. Zack.

Eh klar: Selber Schuld. Helmi und so. Andererseits: Es sind meist kleine Hürden, die einen im Alltag straucheln lassen: Dinge, die zu klein und zu banal sind, dass man auf sie achtet. Sie wahr- geschweige denn ernst nähme. Das passt: Die meisten Unfälle sind Routinefehler. Am Berg stürzt man dort ab, wo man schon 10.000 mal unterwegs war. Bei der Fahrt in die Garage ist der Pfeiler schlimmer da gewesen, wo er die Tür heute erwischt. Man knallt man mit dem Kopf an die Küchenkasteltür, die immer genau hier und genau so offen stand. Und der Teppich, über dessen Kante man einen Abflug macht, liegt auch seit zehn Jahren genau dort, wo er liegt … „Todesfalle Haushalt.“

Was mich an der Sache schmerzt: Dass ich den Schlechredern recht geben muss. Ein bisserl halt. Denn dass es genau dort immer wieder Leute aufhaut, ist halt Fakt - und dass das ebenso unnötig ist, wie diese Soll-Stolperstelle bei der Planung vorhersehbar gewesen sein müsste, auch.

Fazit? Kein Fazit: Natürlich könnte man die Schwelle wegfräsen. Aber: Ein bisserl Schauen ist dem Passanten schon auch zuzumuten.

Und: Ja eh, das ist ein Bagatell-Dings. Banal. Ein Nichts. Eine Kleinigkeit. Nicht der Rede wert. Lächerlich. Blöderweise sind es aber genau kleine Nebensächlichkeiten, die Stimmungen im Alltag prägen: Fragen Sie mal Ihren Bezirksvorsteher, was Leute tatsächlich und nachhaltig aufregt. Oder beobachten Sie sich selbst: Worüber ärgern sie sich immer wieder - obwohl es eigentlich wurscht ist? Eben.

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