Wie ein Traum einen Schweizer Ex-Autorennfahrer in die Toskana verschlug - und wie er dort mit einem Rad-Hotel eine ganze Region belebt
©Tom Rottenberg www.derrottenberg.com
Es ist gut, dass Ernesto Hutmacher Franz Vranitzky nicht kennt. Respektive: Es ist ein Segen, dass Ernesto Hutmacher vor mehr als 30 Jahren keine Ahnung von jenem Satz hatte, der dem ehemaligen österreichischen Bundeskanzler zugeschrieben wird. Denn dann wäre Hutmacher statt in die Toskana zum Hausarzt gefahren. Schließlich lautet der Satz, den Vranitzky nie wieder los wird (obwohl er betont, ihn nie gesagt zu haben) „Wer Visionen hat, der braucht einen Arzt.“ Und Hutmacher hatte genau das: Eine Vision.
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„Ich habe bis heute keine Ahnung, wieso und warum. Oder wo das her kam“, erklärt der heute 65-Jährige. Schließlich ist Hutmacher kein Esoteriker. Nicht einmal als besonders spirituellen Menschen würde er sich bezeichnen. Heute nicht - und früher schon gar nicht: Da stand er sehr real im Leben. Aus einfachen Verhältnissen kommend lernte er zunächst Mechaniker, arbeitet sich aus der Anonymität empor - und schraubte in einem Formel 1-Rennstall.
Parallel dazu fuhr er selbst Rennen. Formel V. Dann wechselte er von zwei- auf einspurig - und wurde Radrennfahrer. Kein schlechter: In der Schweiz kennt man seinen Namen noch heute. Nicht nur wegen der Vision.
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Die hatte er Mitte der 80er-Jahre: „Plötzlich sah ich diesen Ort auf einem Berg vor mir. Eine kleine mittelalterliche Stadt in der Toskana. Ich wusste, wie sie heißt. Am Fuße der Stadt war ein Anwesen. Auch da wusste ich den Namen. Und ich wusste, dass ich dorthin fahren würde - um ein Hotel zu eröffnen.“ Bis dahin war Ernesto Hutmacher noch nie in der Toskana gewesen. Aus Neugierde kaufte er eine Straßenkarte - und fand den Ortsnamen aus dem Tagtraum: „Massa Marittima“. Fasziniert fuhr er los: „Die Stadt am Hügel sah genau so aus wie in der Vision.“ Er fragte nach dem zweiten Namen seiner Eingebung. Und landete - „vollkommen perplex“ - vor einem verfallenen, verkommenen, seit über zehn Jahren unbewohnten Anwesen, das aber wie im Traum aussah: „Massa Vecchia“.
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Hutmacher weiß, dass das „spooky“ klingt. Er kann es nicht erklären - und will das auch gar nicht mehr. Viel wichtiger ist ihm, was aus dieser „Spinnerei“ geworden ist: Ein Rad- und Familienhotel in einer der schönsten Landschaften Europas - der Toskana -, das heute 30 Jahre alt wird. Und in Italien und der Schweiz bei Radfahrern Kultstatuts genießt. Auch, weil Hutmacher eine Lehre aus dem Traum gezogen hat: Es zahlt sich immer aus, dem Herzen zu folgen. Und das, woran man glaubt, ganz und mit vollem Einsatz nicht nur umzusetzen, sondern auch zu leben. Auch, wenn einen alle anderen für einen Irren halten.
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Heute tut das niemand mehr: Ich war vergangene Woche in Massa Vecchia. Hätte Ernesto Hutmacher mir als Lockruf die oben angerissene Story erzählt, wäre ich mehr als skeptisch gewesen: „Aluhutalarm!“ hätte alles in mir gerufen. Und ich hätte nie rausbekommen, dass das in dem Fall ein ganz ganz blödes Vorurteil ist: Weil die Hutmachers - Ernesto und seine beiden Töchter - das Gegenteil von durchgeknallten Esoterikern und Spinnern sind, sondern Menschen, die aus einer Vision eine Idee entwickelt haben, die heute einer ganzen Region eine Perspektive gibt.
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Mich brachte ein Fahrrad-Hersteller in die Toskana: Die Marke Scott - entgegen der landläufigen Meinung nicht in den USA sondern der Schweiz ansässig - hatte zusammen mit dem Bike- und Surf-Textil-Label Ion ein Rudel Journalisten mit Outdoor- und Sport-Affinität eingeladen, in der Toskana den Frühling und die Radsaison zu begrüßen. So, wie sich das gehört: Mit ausführlichen und intensiven Testfahrten auf allem, was die Hersteller an Gutem und Teurem zu bieten haben. Sowohl auf der Straße als auch im Gelände. Vorangetrieben mit purer Muskelkraft - oder aber unterstützt durch-E-Motoren.
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E-Bikes sind in der Radbranche seit Jahren Thema. Mit ihnen gewinnen Menschen Rad-Mobilität zurück, die sie schon abgeschrieben haben. Aber E-Mountainbikes sind etwas ganz Anderes: Sie gelten als der "große, heiße Scheiss" in jener Szene, mit der man in der Bikewelt am meisten Furore, Image und Meter macht: Bei den wilden Wilden Hunden, den Enduro- und Trail-Fahrern: Mit E-Moutainbikes ist man öfter und schneller auf steileren Bergen oben, als mit normalen Rädern - und man hat beim Runterfahren noch mehr "Bumms".
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Eine Einladung wie die von Scott kann man nicht ausschlagen. Nicht, wenn man gerne Rad fährt. Nicht, wenn man Italien mag und die Toskana liebt. Nicht, wenn man sich auf den Frühling freut. Um da mit einem fetten Grinser nach Süden zu reisen, muss man von „Massa Vecchia“, „Massa Marittima“ und Ernesto Hutmacher noch nie gehört haben. Umso umwerfender ist es, diese Begriffe kennen zu lernen - und zu spüren, was dahinter steckt.
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Scott lud natürlich nicht zufällig genau hierher: Hutmacher beherbergt nicht einfach Radfahrer, er stattet sie - bei Bedarf - auch mit Bikes & allem anderen aus. Seine Rad-Verleihstation ist besser sortiert als so mancher hochspezialisierte Bikeshop in Österreich. Die Guides, die hier - ebenfalls bei Bedarf - mit auf Tour gehen, sind alles andere als harmlose Wald- und Wiesenradler: Einer in unserer Reisegruppe ist passionierter Bahn-Radfahrer. Er hat eine Rennlizenz, bikte früher quasi-professionell - und hat Oberschenkel die fast so viel Umfang haben, wie mein Brustkorb. Wenn so einer nach einer Spezialrunde dem Guide auf die Schulter klopft und glücksstrahlend sagt, „schon lange nicht mehr so platt gefahren worden zu sein“, heißt das was. Wenn der gleiche Guide auch Leuten wie mir das Gefühl gibt, Radfahren zu können, spricht das eine deutliche Sprache: Der Mann versteht seinen Job.
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Doch das Gros der Biker, die hierher kommen, braucht keine Guides. Diese Leute kommen mit eigenen Rädern (und testen - und kaufen - dann halt ganz gerne die High-End-Boliden, die Scott ja nicht ohne Grund in Hutmachers „Keller“ stellt). Sie können auch fahren: Rennradfahren ist in Italien sowieso ein großes Ding. Aber Enduro- und Trailfahren explodiert hier (ok: eigentlich eh überall, wo man Rad fährt) gerade richtig. Und Hutmacher hat vor rund zehn Jahren begonnen, „ein bisserl Mountainbiken“ anzubieten. Heute machen die wilden Kerle den Löwenanteil der Biker aus.
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Nicht nur als Gäste in „Massa Vecchia“: Über 500 Kilometer an markierten Trails gibt es mittlerweile in der als „Maremma“ bekannten Landschaft in der südlichen Toskana zwischen den Hügelketten der Monti dell’Uccellina und dem Golf von Follonica. Und während in Österreich das Radfahren auf schmalen Wanderwegen - egal ob sanft im Wald oder steil im Gebirge - fast überall verboten ist und sich Wald- und Grundbesitzer vor allem über die effiziente Durchsetzung dieser Verbote den Kopf zerbrechen, boomt genau dieses Tourismussegment hier. Wie fast überall in Europa.
www.massavecchia.it
Zu Frühlingsbeginn ist es in der Gegend um Massa Marittima schwer, ein freies Hotelzimmer zu bekommen: Da findet hier nämlich ein ganz besonderes Radrennen statt. „Marenna Cup“ hieß es früher - seit heuer aber „Super Enduro“. In Italien, der Schweiz und der Szene der Die-Hard-Moutainbiker ist es - angeblich - weltberühmt. Auf alle Fälle sieht es da - dank der mit Protektoren und Helmen hochgerüsteten Biker-Horden - aus, als belagere ein Ritterheer nicht die Zitadelle, sondern marodiere auch innerhalb der Stadtmauern: Eine Etappe des Rennens führt durch die mittlelaterlichen Gassen und Straßen. Über Renaissance-Plätze - und sogar die Stufen des Doms.
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Nicht nur Freaks und Fans reisen da an - auch Hersteller aus der ganzen Welt. Neben meinen Gastgebern Scott und Ion war in Massa Vecchia die Firma „Sram“ abgestiegen. Auch der Schaltungshersteller hatte Journalisten aus der ganzen Welt eingeflogen. Shimano, der Schaltungs-Weltmarktführer, war - inklusive Pressetross - ein paar Gasthöfe weiter. Eine Win-Win-Kiste: Fotos von teuren und brandneuen Bikes und heißem Zeug in der Fachpresse lösen nicht nur „Will haben“-, sondern auch „Will hin“-Reflexe aus.
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Den ersten Schritt dazu hat - erraten - Ernesto Hutmacher gemacht. Vor 30 Jahren. Seine Vision wurde damals belächelt. Von manchen verlacht. Hinter seinem Rücken - oder auch in sein Gesicht. Das war einmal: So schön Massa Marittima auch ist, so viele Probleme hat die Region. Von früher 10.000 Einwohnern der Stadt leben heute nur mehr 6000 hier. Die Arbeitslosigkeit ist hoch. Abwanderung ein echtes Problem, erklärte der Bürgermeister, Marcello Giundini: Was ein Spinner aus der Schweiz da hier wollen könnte, war auch ihm lange ein Rätsel. Das war einmal. Denn mittlerweile streut die Stadt Ernesto Hutmacher aber Rosen. „Heute verstehe ich dich“, strahlt der Bürgermeister. Aber von Franz Vranitzky hat er noch nie gehört.
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Ein Compliance-Hinweis: Die Reise in die Toskana war eine Einladung von Scott, Ion-Sports und Massa Vecchia.