In der DDR standen die Menschen stundenlang Schlange, um an Bananen zu kommen. In Wien tun sie es, um Donuts zu kaufen.

Ich muss es ja nicht verstehen. Respektive: Ich will mir nicht die Mühe machen, es zu kapieren. Und wenn ich deshalb das definitive Geschmackserlebnis, diese berühmten „kleinen Explosionen am Gaumen“ versäume, dann soll es eben so sein.

Bloß: Ich habe den leisen Verdacht, dass dem nicht so ist. Weil Ketten nicht so funktionieren. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Big Mac in Frankfurt gravierend anders schmeckt als in Wien oder Boston, ist gering. Schließlich ist das Konzept einer Kette – egal ob Franchise oder nicht – die Garantie, das genormte, wiedererkennbare Produkt an jedem Standort anzubieten. In der gleichen Farbe, Form, Größe und Konsistenz, wie in jedem beliebigen anderen Outlet. So, als kämen sie alle aus dem gleichen Werk. Werk. Vom gleichen Fließband. Aus der gleichen Küche.

Je nach Zugang zum jeweiligen Dingsbums nennen wir das dann globalen Einheitsbrei – oder weltweite Produktsicherheit. Beides hat was. Aber darum geht es hier und heute nicht.

Es geht um ganz was Anderes: Darum, dass ich schlicht und einfach nicht verstehe, wieso sich die Wiener seit über drei Wochen in – ohne Übertreibung – 100-Meter-Schlangen in Regen, Wind und Kälte stellen. Für einen Donut. Einen Donut, der weder besonders umwerfend, noch besonders oder gar einzigartig ist: Dunkin Donut ist solide Massenware. Die Kette gibt es überall auf der Welt – eben deshalb maße ich mir an, zu wissen, wie die Donuts auf der Mariahilfer Straße schmecken, ohne dort einen gekauft zu haben: Ich kenne das Zeug von anderswo. So wie fast jeder.

Dass da am ersten Tag eine Schlange in der Fußgängerzone ist: Ok. Am zweiten: Meinetwegen. Werbedruck, Neugierde und – vermutlich – irgendwelche Verschenkereien ziehen halt immer. Und dass die Aussicht auf ein Stück Gratis- oder Billig-Irgendwas die Menschen irrational handeln lässt, ist nichts Neues: Wer für um einen Cent billigeren Sprit 100 Kilometer Anfahrten in Kauf nimmt oder für um zehn Euro verbilligte Jeans 45 Minuten quer durch die Stadt pendelt, um dann eineinhalb Stunden Schlange zu stehen, hat entweder nicht mitgedacht, oder ihm/ihr ist so fad, dass er ohnehin froh ist, wenn die Fahr- und Wartezeit den Tag verkürzen: Sonst gäbe es vermutlich nur Fernsehen.

Oder – ganz zynisch gesagt – er/sie hat einen Job, dessen Stundenlohn sich am Kollektivvertrag eines Sweatshops in Bangladesh orientiert. Und zwar am Kinder-Nähtarif …aber lassen wir das. Denn Fakt ist, dass Masse immer Masse anzieht. Und Hirn tötet.

Aber wer bin ich, mir an die Stirn zu tippen, wenn der Wiener sich für einen Zucker-Fett-Glasur-Teigkringel zum Ladenpreis von 1,69 Euro zwei Stunden in Wind, Regen und Wäh-Wetter stellt – anstatt eine Minute weiter zu gehen? Und sich beim Mitbewerber – egal, ob Starbucks, McDonald’s, Tasty Donuts, um jetzt einmal nur bei den Franchisern in der näheren Umgebung zu bleiben – das gleiche Produkt zum gleichen Preis zu holen?

Ja eh: Da gibt es Unterschiede, werden Sie jetzt einwerfen. Nur: Ich unterstelle, dass Sie die bei einer Blindverkostung ziemlich sicher nicht herausschmecken würden. Und Publikum, das sich zwei Stunden in die Schlange stellt, wohl noch weniger. Egal. Es ist ein freies Land…

Aber genau das mit dem „freien Land“ ist das, was mir nicht in den Kopf will: Nach zwei Tagen Dunkin Donut in Wien sollte sich die Euphorie, jetzt endlich auch zu jenen 35 auserwählten Ländern zu gehören, in denen die seit 60 Jahren aktive Kette ihre mehr als 11.000 Shops betreibt und täglich über fünf Millionen Kunden versorgt, ein wenig gelegt haben: So exklusiv ist so ein Club – siehe die Zahlen oben – doch wieder nicht. Und so groß sind Not, Verzweiflung und Hunger in Wien derzeit nicht. Sagt man mir.

Doch schmeck’s: Drei Wochen nach der Eröffnung ist die Schlange immer noch da. Nicht mehr in der Mitte der Straße, sondern eng – Kälte und Wind geschuldet – an die Fronten und in die Foyers der angrenzenden Läden geschmiegt und gekuschelt. (Dort schätzt man die Menschenschlange quer vor dem eigenen Eingang, das nur nebenbei, ganz außerordentlich.)

Unlängst, es war schon dunkel und das Wetter mehr als ungemütlich – zogen wir wieder mal an der Schlange vorbei. Staunend. Kopfschüttelnd. Verständnislos. Bis plötzlich einer aus unserer kleinen Gruppe loslachte. Er stammt aus Ostdeutschland. Kann sich noch an die DDR erinnern. Und ans Schlange stehen für Produkte von „drüben“: Geschichten von den „Ossis“, die für Bananen so ziemlich Einiges auf sich nahmen, erheiterten oder beleidigten – je nach Herkunftsregion – halb Deutschland nach dem Fall der Mauer über Jahre.

Der Ostdeutsche, der seit über zehn Jahren in Wien lebt, sah nach seinem Lachkrampf aber zufrieden aus: „So, ich glaube, unsere Ossi-Kiste ist hiermit Geschichte: Ich muss nur schauen, dass sich in Deutschland rumspricht, dass der Donut die Banane des Ösis ist. Mit einem kleinen Unterschied: Wir mussten für Bananen ohne Anstellen über die Mauer. Ihr müsstet nur in den Laden nebenan.“

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