Nahtoderlebnisse und andere Aufnahmerituale

Glauben Sie an den „Mann mit dem Hammer"? Und das „Runner´s High“? Mag sein, dass es die beiden wirklich gibt - aber sicher nicht so, wie Sie sich das vorstellen. Aber es gibt noch etwas. Es wartet nach den ersten Langstreckenläufen auf Sie. Und darauf bereitet Sie vermutlich niemand vor.

Ach lassen Sie mich doch in Ruhe: Die Geschichte vom „Mann mit dem Hammer" kann ich nicht mehr hören. Genauso wie die vom „Flow“. Oder dem „High“. Oder wie auch immer man das Glücksgefühl, das sich angeblich beim Laufen irgendwann einstellt - wenn man nur lange genug läuft - nennt. Glauben Sie mir: Reine Propaganda. Lüge. Zumindest zurecht-verbogene Wahrheit, damit Menschen wie ich Menschen wie Ihnen (wenn ich jetzt mal unterstelle, dass Sie noch nie einen „echten“ Langstreckenlauf absolviert haben) ein paar Dinge eindrücken können, die

a) uns noch heroischer erscheinen lassen.

b) Ihnen ein bisserl Angst machen.

und

c) trotzdem Sehnsuchtsgefühle in Ihnen wecken.

Nicht, dass es all das - „Mann mit Hammer" und „Runners´ High“ - nicht doch gäbe. Aber so absolut und eindeutig, wie Ihnen das von Medien und Marketing vorgegaukelt wird, ist es halt nicht. Vergleichen Sie es ruhig mit dem, was Männer vom weiblichen Orgasmus wissen. Oder zu wissen glauben: Weil Sex bei uns halt grosso modo eher ein binäres Ding ist, tun wir uns unendlich schwer, zu akzeptieren (von kapieren red ich ja gar nicht), dass das bei Frauen meistens ein bisserl anders funktioniert als bei uns. Nicht nur mit „Eins“ und „Null“. Oder Schwarz und Weiss. Oder je mehr Power desto mehr Effekt. Sondern Nuancierter. Variantenreicher. Was auch immer. Angeblich: Ich kenne es ja nicht.

Trotzdem wage ich die Behauptung: Das mit dem Hammer und dem High ist ähnlich. Angeblich lauert der Typ mit dem Hammer meist bei Kilometer 32. Und schlägt dann von hinten zu. Gnadenlos und überraschend: Form und Leistung folgen dem ersten Opfer des Schlägers: Der Motivation.

Heißt es. Doch ich bezweifle das: Die Frage, die am Hammer ganz vorne sitzt, kann man nämlich schon unter Normalbedingungen nicht wirklich sinnstiftend-endgültig beantworten: Wieso tust du das? Wieso tust du dir das an? Was bringt es dir? Willst Du jetzt wirklich noch weiter laufen?

Wieso das erst bei Kilometer 32 passieren soll, habe ich nie kapiert: An einem nasskaltwindiggraupelschaurigen Nebelmorgen steht der Thor-Typ aus den Marvel-Comics vor mir, sobald der Wecker läutet. Er stellt sich mir in den Weg, wenn ich aufstehe, versucht mich nieder zu dögeln, während ich mir die Laufschuhe anziehe und überlege, welches Herbst-Wääää-Outfit wohl richtig ist. Er zeigt auf meine Freundin, die friedlich ins Bett gekuschelt weiter schläft. Und weiß, dass er verloren hat, sobald die Tür ins Schloss fällt.

Aber er kommt wieder. Wann immer es ihm taugt: Auf kurzen Läufen bei Schönwetter. Auf langen im Schnee. Oder umgekehrt. Beim Intervalltraining. Bei Fotopausen. Und es ist ihm vollkommen egal, ob ich einen, 14 oder 32 Kilometer gelaufen bin.

Mich hat er einmal bei Kilometer 28,7 angefallen: In Palma. Der Halbmarathon führt dort durch die hügelige Altstadt. Nach Kilometer 21 geht es dann schnurgerade eine stinklangweilige Industriestraße hinaus nach Playa del Ingles. Dort dreht man um - und rennt den Strand entlang: Über den Ballermann zurück nach Palma.

Am Marathontag herrschte super Wetter. Für Kitesurfer: Die Industriestraße entlang hatten wir konstant 25km/h Gegenwind. Am Strand kam er dann (wir folgten der Küstenlinie und liefen die Dünen rauf und runter) von allen Seiten, uns Salzwasser und Sand auf verschwitzte Leiber - und die Sonne buk das daraus eine feine Panier. Draussen, im Wasser, hatten die Kiter angeblich die besten Bedingungen er ganzen Saison.

Da der Marathon von der TUI veranstaltet wird und der Reiseriese uns (ein Rudel Journalisten) eingeladen hatte, wohnten wir dort, wo wir unter Normalbedingungen nie hin gefahren wären (was als Gruselkabinett aber doch zehn Minuten lang faszinierend und lustig) ist: Am Ballermann.

Das Hotel war ok. Eine solide All-Inc-Burg, in der Senioren der Zeit beim Vergehen zusahen. Mitunter, sagte man uns, vergingen die Senioren vor der Zeit. Wir liefen dran vorbei: Bei Kilometer 28,7 sah ich meinen Balkon. Ich sah den Pool. Die Bar und die Liegestühle. „Bieg ab!“ lockte der Mann mit dem Hammer.

Ja eh. Nur: Man hat nicht das halbe Jahr trainiert, um jetzt abzubrechen. Und man hat nicht Familie und Freunden gesagt, dass man hier läuft, um dann zu gestehen: „Da stand ein bunter Drink auf der Bar.“ Und außerdem gilt sowieso, was ich in Berlin (bei Kilometer 35) auf einem Schild einst las: „Umdrehen wäre jetzt auch blöd.“

Der Mann mit dem Hammer ist ein als Verführer eine Null - darum schlägt er ja auch zu. Das kann passieren. Jedem und jeder. Überall. Formtief. Absturz. Kreislaufprobleme. Hitzeschlag. Muskelzerrung. Krampf. Magenprobleme. Dehydrierung. Es gibt eine Million Dinge, die man richtig gemacht hat - und trotzdem geht irgendwas daneben. Das ist dann einfach Pech. Aber man kann eben auch Glück haben.

Bei mir war es einmal irgendwas im Essen. In Südtirol. Bei einem Viertages-Event: Erster Tag 25 Kilometer Trail- und Berglauf. Zweiter Tag 140 Kilometer Rennrad. Dritter Tag 60 Kilometer Mountainbike. Vierter Tag 30 Kilometer Straßenlauf. Alles mit feinen Höhenmetern. Die Organisatoren - das Outdoor-Membran-Label „Gore“ - hatte alles super organisiert. Nur der lokale Guide für die letzte Etappe patzte massiv. Er hatte sich, zum Einen, vermessen. Die Strecke war nämlich 38 Kilometer lang. Und die angekündigten „Brunnen auf der ganzen Routen“ waren landwirtschaftliche Wasserspeicher. Metalltanks, in der prallen Sonne - von denen keiner wußte, wann sie gefüllt worden waren. Teils trugen sie Logos, dass Herbizide, Pestizide oder Düngemittel im Tank sein könnten: Bei den nicht beschrifteten tranken wir - eine 50-köpfige, handverlesene Gruppe von Sport-Verrückten und Multiplikatoren aus ganz Europa - da auch lieber nicht …

Nach drei Tagen Vorbelastung waren alle ausgepowert. Da reicht eine Kleinigkeit. Und Irgendwas im Essen hatte in der letzten Nacht schon ein paar Kollegen nieder gestreckt: Was mich da nach 20 Kilometern (nicht 32!) aus dem Rennen nahm, war zwar hammerhart - aber es kam weder plötzlich, noch überfallsartig. Aber als ich das vierte Mal …  lassen wir die Details. Jedenfalls kaufe ich diese Saison lieber keine Äpfel aus der Südtiroler Gegend um Laas.

Auf der anderen Seite reden Alle vom das „Hoch“: Natürlich gibt es das auch. Aber auch hier gilt, dass es nicht erst nach eineinhalb Stunden, sondern jederzeit auftauchen kann. Und unendlich viele Facetten und Nuancen kennt. Das Gefühl zu fliegen kann 1001 Ursachen haben. Es kann plötzlich auftauchen. Es kann Im Kopf, in den Beinen, im Herz oder auch sonst überall sein. Oder ganz woanders. Im ganzen Körper oder lokal. Es kann von Musik getigert werden. Von der Umgebung. Vom Lachen eines menschen am Straßenrand. Von der Erinnerung an einen netten Augenblick: Plötzlich geht alles leicht und locker.

Medizinisch Versierte können jetzt sicher eine Million „Abers“ anführen. und jedes ist/wäre richtig. Sie könnten auch erklären, dass es eine medizinische Definition samt Erklärung für das „Läufer-Hoch“ gibt. Eine hat mir einmal ein Neurologe bei einem Berg-Kongress in Bozen geliefert. Er sprach eigentlich von der Trance, in die Menschen am Berg oft zu geraten glauben. Oder in die sie sich versetzen.

Trance - wenn ich laienhaft zusammenfasse, was der Experte der Universität Beirut da erzählte - hat etwas mit Schutzmechanismen des Körpers zu tun. Ähnlich wie Drill: Ein geschulter Feuerwehrmann kann demzufolge noch durch einen verrauchten Raum laufen, in dem jeder Andere schon kollabiert wäre. Nicht, weil er Superkräfte hat - sondern weil sein Körper darauf geschult ist, alles auszuschalten und auszublenden, was bei diesem Stunt Energie verbraucht, aber nicht unbedingt benötigt wird.

Trance ist etwas Ähnliches: Körper und Geist erkennen, dass da jetzt eine Situation kommt, in der bestimmte Körperfunktionen weniger wichtig sind. Um das Überleben zu sichern, werden die eben runter gefahren. Weil der Kopf aber immer noch versucht, Reize so zu verarbeiten, wie er das unter Normalbedingungen gewohnt ist, wird daraus Trance. Oder ein Schweben. Oder Schmerzunempfindlichkeit. Oder interessante optische Wahrnehmungen. Oder oder oder… Monotone, repetitive Rituale, Gesänge oder Bewegungsabläufe - Mantras etwa, aber eben auch Laufen - können das verstärken.

Und dass ein Mangel - oder eine Minderversorgung - an Sauerstoff dann „mithilft“ manches anders, oder stärker, zu empfinden, überrascht nicht: Dass jede Religion „heilige Berge“ hat, passt da ebenso dazu, wie Fessel-, Dominanz und Strangulationsspiele beim Sex. Man muss halt wissen, wo Schluss ist. Und Rausfinden, was man selber mag: Patentrezepte gibt es keine - und Garantie, dass es beim nächsten Mal wieder genauso lustig ist, auch nicht: Das „Runner´s High“ ist ganz ähnlich.

Eines aber gibt es. Und davor warnt Sie - wenn Sie das erste Mal auf der Langstrecke (und was Langstrecke ist, müssen Sie subjektiv entscheiden) waren, keiner: Das Nahtoderlebnis danach.

Ich rede da nicht von Muskelkatern. Von Gelenksschermzen und Erschöpfung. Sondern vom Versuch, nach einem - sagen wir mal 40-Kilometer-Lauf eine stinknormale Treppe hinunter zu gehen. Rauf ist kein Problem. Aber Gnade Ihnen Gott, wenn Sie oben sind - und wieder runter wollen. Willkommen in der Hölle. Die Hölle ist ein grotesker Ort - und der Weg dorthin muss gar nicht lang sein..

Zwei Stufen vom Haustor auf die Straße reichen:  Keine Chance. Sie steigen seitlich ab. Auf der Öffi-Strecke von daheim ins Büro fahren ältere Garnituren und Niederflur-Busse? Den Fehler, in den alten Bus eingestiegen zu sein, machen Sie kein zweites Mal - und auf der Rolltreppe hinunter zur U-Bahn warten sie schön brav, bis ihre Fußspitzen auf das flache, niveaugleich mit dem Bahnsteig liegende Endstück geschoben werden.

Aber auch, wenn Ihnen das keiner sagt: Schämen Sie sich nicht. Sondern schauen Sie in die Gesichter der Umstehenden: Etliche werden es gar nicht merken. Ein paar vielleicht deppert Grinsen.

Aber es wird immer auch jemanden geben, der ihnen zuzwinkert. Und wissend-anerkennend nickt: Das sind wir. Wir, die wissen, was Sie gerade spüren. Weil wir das Gefühl kennen. Nicken Sie zurück: Sie sind jetzt eine oder einer von uns. Und das nächste Mal sind Sie es dann, der der Novizin oder dem Novizen zunickt. und sagt: „Willkommen in meiner Welt.“

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Silvia Jelincic

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fischundfleisch

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