„Heinzelmännchenjournalismus“ ist, wenn man Geschichten von Menschen und ihrer Arbeit erzählt, die wir nur bemerken, wenn das, was da getan wird, plötzlich nicht passiert. Oder haben Sie sich schon einmal überlegt, ob U-Bahn-Schienen ewig halten, wer die wie kontrolliert und austauscht – und wann das passiert? Oder: Wie weiß die Schienenfabrik eigentlich, wie stark gekrümmt die Kurven sind – und wie bekommt man eine krumme Kurve durch einen geraden Tunnel?
Ich mag Sendung-mit-der-Maus-Geschichten. Also das, was ein Kollege dereinst spöttisch „Heinzelmännchenjournalismus“ nannte – um dann ein paar Wochen später Abbitte zu leisten: Natürlich sind es die „großen“ Themen und Ressorts, mit denen Medien und Medienmacher sich und einander auf die Schultern klopfen.
Aber es hat einen Grund, wieso im wirklichen Leben das „Banale“ die Menschen beschäftigt. Klar: Titten und Terror ziehen immer. Und persönliche Betroffenheit. Eingebildet-suggerierte: Angst vor Fremden, Angst vor Kriminalität, Angst vor dem sozialen Abstieg. Emotional-reale: Kinder. Tiere. Schicksalsschläge. Nah vor fern.
Oder mit „Aha“ gekoppelte. Also Geschichten, die als „Enthüllung“ ein Stück eigenen Alltag präsentieren, das so selbstverständlich ist, dass man es gar nicht bemerkt: „Sendung mit der Maus“-Geschichten. Kein Mensch denkt über den Syphon im Klo nach. Außer das Wasser drin ist weg – und der Gestank aus dem Fallrohr wird binnen Stunden unerträglich. Niemand bemerkt die Müllabfuhr – außer sie kommt drei Wochen nicht.
Oder: Gibt es Uninteressanteres, als das Reifenlager eines Busunternehmens. Außer man stellt die Frage so: „Wie funktioniert es eigentlich, dass die 800 Busse und 600 anderen Fahrzeuge der Wiener Linien pünktlich zum Stichtag Winterreifen aufgezogen haben? Wo und wie lagert man die Reifen, sodass man sie auch wieder findet? Und: Wer sind die Menschen, die das alles tun?“
Hier kommt die Maus: „Das ist Herr Maier. Herr Maier muss heute früh raus. Denn der Winter kommt. Obwohl es noch nicht schneit. Trotzdem muss Herr Maier heute früh in die Werkstatt. Die ist am Rand der Stadt. Und riesengroß. Kein Wunder: Hier werden alle Busse der Stadt repariert und gewartet. Und die Stadt ist groß. 1,8 Millionen Einwohner. Um die alle zur Schule oder in die Arbeit zu bringen, braucht man eine Menge Busse. Auch wenn es schneit…“ und so weiter. Sie erinnern sich an diese Erzähl-Sprache? Und jetzt schauen Sie sich mal „Galileo“ & Co an.
Ich mag diesen „Heinzelmännchenjournalismus“. Und praktiziere ihn. Regelmäßig und gerne: Auch wenn das Renommee gleich Null ist, finde ich es spannend, Geschichten zu erzählen, in denen es um Dinge geht, die erst auffallen, wenn sie plötzlich nicht hinhauen. Oder nicht gemacht werden. Müllabfuhr und Abwasser überlasse ich Anderen: Meine „Heinzelmännchengeschichten“ schreibe ich über den öffentlichen Verkehr – in jenem Magazin, das in allen Öffis in Wien und Niederösterreich hängt. Manche Journalistenkollegen grinsen darüber. Trotzdem finde ich „meine“ Sendung-mit-der-Maus-Reportagen mit schöner Regelmäßigkeit ein paar Wochen nachdem sie öffentlich aushängen, in den „großen“ und „ernstzunehmenden“ Zeitungen und Magazinen wieder. Zufall. Bestimmt.
Vergangene Woche verbrachte ich deshalb mit Herrn Andreas die Nacht in einem U-Bahn-Tunnel. Von ein Uhr früh bis vier Uhr morgens. Außer ihm und mir waren noch 20 Männer in der Röhre: Die 20 sind einer von vier Bautrupps der Wiener Linien, die jede Nacht U-Bahn-Schienen auswechseln. Weil – und hier beginnt die „Sendung mit der Maus“ – keine Schiene ewig lebt. Und man sie nur austauschen kann, wenn die U-Bahn nicht fährt. Also zwischen eins und vier. Logisch. Nur: Haben Sie sich je darüber Gedanken gemacht? Eben.
Kurz gesagt: Es ist ein Akkord- und Knochenjob. Familienfeindlich. Rücken und Kreuz ruinierend. Im Dunkeln. Im Freien. Bei jedem Wetter. Und auch wenn die Schienen auf Güterwaggons (ja, sowas gibt es auch in der U-Bahn) mit Kränen angeliefert und abgelegt werden, müssen die Schienen händisch positioniert und montiert werden. Und zurechtgebogen. Ja, Sie lesen richtig: Zu-recht-ge-bo-gen! Hän-disch! Oder glaubten Sie etwa, dass Schienen genau in jenem Kurvenradius gegossen werden, in dem sie dann verbaut werden? Ach, darüber haben Sie noch nie nachgedacht? Eben.
Zum Trost: Ich auch nicht. Aber Herr Andreas und sein Trupp haben es mir dann gezeigt. „Hier kommt die Maus“ (dü -düdeldütü - düdeldüdeldü): „Das ist Herr Andreas. Herr Andreas arbeitet bei der U-Bahn in Wien. Er verlegt Schienen. Genauer gesagt: Herr Andreas tauscht sie aus, wenn sie kaputt sind. Oder alt und abgefahren. Etwa alle 20 Jahre muss das sein. Heute muss Herr Andreas die Schienen in einer engen Kurve austauschen. Aber: Die Schienenfabrik weiß ja nicht, wie stark die Kurve hier im U-Bahn-Tunnel gekrümmt ist. Und wie eine krumme Schiene durch den geraden Teil des Tunnels kommt, weiß die Schienenfabrik-Gießerei natürlich auch nicht…“ und so weiter.
Herr Andreas und sein Trupp sind „Heinzelmännchen“: Ihre Arbeit sieht man nicht. Und dass es sie gibt weiß auch keiner. Dabei tun sie einen wichtigen Job: Sie erledigen nicht nur den Austausch von Schienen – sondern auch die Kontrolle. Ach, darüber haben Sie auch noch nie nachgedacht? Aber Sie sitzen oft täglich in der U-Bahn und erwarten, dass die schnell und verlässlich fährt? Hoppla!
Ich habe es auch nicht gewusst: Viermal im Jahr wird mit einem Spezialwagen das Netz abgefahren. Parallel dazu gibt es eine „menschliche“ Kontrolle. Genau: Da gehen Menschen die Strecken ab. 80 Kilometer ist das Wiener Netz lang. 80 Kilometer zu Fuß. Mehrmals im Jahr. Jeden Meter. Wann? Genau: Wenn die U-Bahn nicht fährt. Zwischen eins und vier. „Wenn die Fahrgäste nicht merken, was wir tun, machen wir unseren Job gut“, sagt Herr Andreas.
Denn wenn sie den Schienen-Bautrupp bemerken, dann um sich zu beschweren: „Wenn wir an offenen Abschnitten arbeiten, gibt es sofort Beschwerden wegen Lärm. Aber: Wir können die Schienen ja nicht weg- oder in Form meditieren…“ Die Leute von Herrn Andreas sind übrigens auch für Straßenbahnschienen zuständig. Da wird überirdisch und bei Tag gearbeitet. Oder auch nicht. Zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung. Herr Andreas ist keiner, der Witze erzählt: „Unlängst landete wieder ein Beschwerdebrief bei mir. Da beklagte sich ein Fahrgast darüber, dass wir alle nie was hackeln: Immer dann, wenn er mit der Bim durch eine unserer Baustellen fährt, stehen nämlich alle Arbeiter untätig neben den Gleisen…“
Anmerkung: Die ausführliche und üppig bebilderte Reportage über die Schienen-Wechsler im Wiener U-Bahn-Netz ist in der April-Ausgabe des VOR-Magazins zu lesen.