Wenn man sich in New York für Wien schämt

Einen Marathon muss man laufen können - und es aber auch wollen. New York zeigt da auf 1000 Ebenen vor, was alles geht. Wenn man will. Und Wien ist anders.

Natürlich ist es abgeschmackt, einen Text über New York mit Zitaten wie „If I can make it there, I´ll make it anywhere“ oder „First we take Manhattan …“ zu beginnen. Aber wenn es passt, dann passt es eben. Auch wenn es weh tut. Weil das, was in New York so selbstverständlich und entspannt funktioniert (oder abgewickelt wird) in Österreich nicht an prinzipiell anderen Bedingungen scheitert, sondern am Wollen der Verantwortlichen. Respektive deren Nichtwollen.

Aber der Reihe nach. Ich bin nämlich gerade - Anfang November - in New York laufen gewesen. Beim New York Marathon: 42,195 Kilometer - von Staten Island über Brooklyn, Queens und die Bronx nach Manhattan. Der Marathon von New York ist einer der Majors-Serie. Der „Big Six“ - also einer der sechs populärsten und spektakulärsten Läufe der Welt. (Die anderen: Berlin, Boston, Chicago, London und Tokio) Einen Startplatz zu bekommen, ist oft nicht so easy. Aber wenn man bei diesen Läufen (ich war bisher in Berlin und New York dabei) mitläuft, kommt irgendwann der Moment, wo man sich ein bisserl schämt. Wenn man gefragt wird, wie das in Wien so sei - weil wir da ja auch einen großen Marathon haben. „Vienna must be great. I heard, you have 40.000 runners running at your Marathon. Right?“

Hm. Also. Äh. Nicht ganz. Das zu erklären tut weh. Weil die Amerikaner, Deutschen und Läufer von Weißgottwoher am Ende der Geschichte dann mit großen Augen dastehen und fragen, ob das nicht peinlich sei. „Sounds like cheating.“ Sowas hört man halt nicht so gerne über die eigene Heimatstadt. Aber: Ganz falsch ist es halt nicht. Denn in Wirklichkeit laufen den „Vienna City Marathon“ keine 7000 Leute. Trotzdem gehen die Veranstalter weltweit mit 40.000 Läufern hausieren. Aber: Nein, sie lügen nicht. Sie formulieren (und zählen) bloß österreichisch-kreativ.

Die Sache ist die: Während in Berlin, New York & Co dort, wo Marathon drauf steht, Marathon drin ist, ist Wien anders. Um auf die Plus-40.000 zu kommen und sich mit dem Superlativ „größte“ schmücken zu dürfen, wird alles, was am Eventwochenende in Wien läuft, mitgezählt: Kinderlauf-Teilnehmer ebenso wie Halbmarathonläufer. Staffelläufer. Macht in Summe gut über 40.000 Personen - und bevor jemand jetzt „dann lügen die!“ schreit: Die VCM-Organsiatoren selbst sagen nie „größter Marathon“ (in Zentral- und MItteleuropa) - sondern schreiben „Marathonveranstaltung“: Dass die doofen Medien nur „Marathon“ schreiben, ist ja nicht ihre Schuld …

Freilich: Wer in Wien mitläuft, hat sich an derlei längst gewöhnt. Es gehört zum österreichischen Wesen, es mit Präzision nicht so genau zu nehmen. Dafür braucht man nicht über „Beethoven war Österreicher und Hitler Deutscher“ zu räsonieren - ein kurzes Eintauchen in die harmlosen Details des Wiener Prestigelaufes genügt.

Denn mit dem Suffix „-Veranstaltung“ allein ist es noch nicht getan: Fragt man nach der Zahl der „echten“ Marathonläufer in Wien, präsentieren die Veranstalter gute 10.000 Starter. Bloß: Ins Ziel kommen davon nur knapp mehr als zwei Drittel. Also 7000 Läufer. Und -innen. Zum Vergleich: In New York waren es heuer über 50.500. Finisher. Und im Vorjahr 50.266. Also: Finisher. Bei insgesamt 50.740 Startern. In Wien standen 2013 exakt 6850 Marathon-Finisher genau 10.588 Marathon-Startern gegenüber. Ist Wien also so viel selektiver als New York?

Mitnichten. NY ist ein tougher Lauf. Der Lauf hat über 300 Höhenmeter. Wind und Kälte gehören dazu. Wien hat keine 70 Höhenmeter. Im Frühling. Woher also die Diskrepanz? Ganz einfach: Während die tatsächlich großen Events eben dort, wo sie Marathon draufschreiben, von den Läuferinnen und Läufern auch einen Marathon gelaufen sehen wollen, nimmt man es in Wien schon wieder nicht so genau: Wer sich für den Marathon anmeldet, kann es sich bei der Hälfte der Strecke überlegen - und „nur“ einen halben laufen. Von den Veranstaltern wird das als „Service“ verkauft - von immer mehr Läufern aber als Etikettenschwindel, Zahlenfrisur und Abcasherei wahrgenommen. Und als Belästigung der „echten“ Marathonis.

Doch nur ein Schelm (mit einer guten Rechtschutzversicherung) würde sagen, dass dahinter Kalkül und Konzept steckt. Denn für die Unterstellung, dass die Wiener Veranstalter halt wissen, dass sie bei 6500 echten Marathonläufern weder die TV-Liveübertragung noch die Sponsoren bekämen, die ein 40-Tausend-Marathon-Dings bringt, gibt es keine Belege. Ebenso wenig dafür, dass die 10.000 Marathonstartplätz deshalb verkauft werden, weil die 15.000 der „Jedermanndistanz“ Halbmarathon zu rasch ausverkauft sein könnten - und das „Service“ auf halber Strecke eben ein nettes Körberlgeld (die Marathon-Startplätze kosten mehr) bringt. Dass es angeblich vor einigen Jahren auf der Vollstrecke im letzten Teil zu wenig Wasser und sonstige Versorgung für die Zahl der Laufenden gegeben haben soll, ist bestimmt nur Zufall.

Freilich: Auch anderswo, bei kleineren Events, gibt es beim Voll- auch einen Halbmarathon. Und Staffeln. Bloß: Dort - etwa beim Wachau-Marathon - achtete man peinlich genau darauf, die Läufer möglichst nicht zu mischen. Weil ein Halbmarathon eine andere Taktik und ein anderes Haushalten mit Reserven bedingt, als ein Marathon. Noch „lustiger“ ist das bei Staffeln: Bei Kilometer 32 plötzlich von ausgeruhten und frisch eingewechselten Staffelläufern überholt zu werden, die einen auf dicke Hose machen, ist oft demoralisierend. (Auf Rundkursen - etwa dem LCC-Herbstlauf ist das etwas Anderes: Da gehört Überrundetwerden einfach dazu.)

Lösbar wäre das Dilemma ganz leicht: Mit unterschiedlichen und zeitlich eindeutig voneinander abgesetzten Startblöcken. Bloß: Das ist das nächste Wien-Dilemma. Denn während anderswo (und teils sogar bei Laufveranstaltungen in Österreich) rigoros kontrolliert wird, ob man im richtigen Block startet (oder man - falls man es doch schafft, reinzukommen - die elektronische Zeitnehmung erkennt, wenn ein Chip im „falschen“ Zeitfenster über die Startlinie geht und den Läufer disqualifiziert), ist das beim VCM vollkommen egal: Man bekommt zwar einen Startblock zugeteilt - wo man sich aber dann tatsächlich einreiht und aufstellt, ist vollkommen egal. Fazit: Gedrängel und schlechte Stimmung auf den ersten Kilometern- etwa wenn eine Altherrenpartie im zweiten Block ganz vorne gemütlich tratschend lostrabt - und es schnelleren Läufern so unmöglich macht, rasch und zügig in ein schnelles Rennen zu kommen.

Dem Veranstalter kann es egal sein: DAS Bild des Wien-Marathons ist, alle Jahre wieder, die von zigtausend „Marathon“-Läufern bevölkerte Reichsbrücke. Schaut geil aus. Hammergeil. Das freut auch die Touristiker. Dass diese Dichte dann beim ersten Nadelöhr - der Prater Hauptallee - in der Vergangenheit oft wieder zu Enge, schlechter Stimmung und Schubbsereien führte, sieht dann ja keiner: Die TV-Kameras picken in Österreich traditionell auf der Elite - der Pulk wird medial außen vor gelassen. Und auch so behandelt.

Nicht nur beim Lauf: Das kärglich-klägliche Startersackerl des VCM ist mittlerweile legendär. De facto sind da mittlerweile nur mehr Werbeprospekte drin. Und während man in Berlin nach dem Rennen in Ruhe und bestens versorgt vor dem Reichstag im Gras liege und entspannen kann, wird man in Wien in der Hofburg mit einem Apfel und einer Flasche Mineralwasser „bewirtet“ - und soll sich dann (bitte) schleichen.

Noch drastischer ist dieser Unterschied in New York: Der Finisherbag hat Einkaufssack-Format und ist bestens gefüllt. Jeder - wirklich jeder Streckenposten, Polizist, Security, Rot-Kreuz-Mitarbeiter oder Garderobe-Ausgabehelfer - applaudiert, gratuliert und bejubelt auch noch die letzten Ankömmlinge. Und die Wärme-Pelerine, die man in New York umgehängt bekommt, ist mittlerweile ein legendäres - weil funktionierendes und langlebiges - Souvenir.

Aber da ist noch etwas: In New York sind Behinderte willkommen. Und zwar als regulärer, normaler Bestandteil des Laufes. In allen Startblöcken sieht man sie: Rollstuhlfahrer. Handbiker. Oder sonstwie Gehandicapte. Klar: Die meisten haben Guides oder Betreuer dabei, die mit knallgelben Shirts neben und hinter ihren Schützlingen laufen und ihnen den Rücken frei halten. Aber das wäre meist gar nicht nötig. Weil auch die Läuferinnen und Läufer davon ausgehen, dass die Strecke nicht ihnen alleine gehört, sonder man hier gemeinsam unterwegs ist - um ein Fest zu feiern, bei dem jeder willkommen ist, der bereit ist, sich einzubringen.

Darum tut es ein bisserl weh, wenn man als Wiener beim Laufen in New York gefragt wird, wie denn der „eigene“ Marathon so sei. Weil die Stadt so wunderschön ist: „40.000 Marathonrunners in this beautiful imperial city of yours! And you really finish in front of the old palace in the historic center? Oh my god! This party must be even better than New York.“

Ich bin ein braver Wiener - und ein höflicher Gast: „Well, you know: Vienna is beautiful - but you can not compare it to New York. This is a completely different world.“

Ein bisserl geschämt habe ich mich aber doch: Beim Marathonlaufen geht es nämlich nicht nur ums Können - sondern auch ums Wollen. Überall. Nur: Wien will halt nicht. Obwohl es könnte.

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