Wie aus Lagern Pulverfässer werden

Ein Wiener Ex-Polizist, der für internationale Organisationen Risikoanalysen und Sicherheitskonzepte erstellt, blickt beim Österreich-Heimaturlaub auf den Umgang mit der Flüchtlingskrise.

„Was hier passiert ist Wahnsinn. Das ist grob fahrlässig.“ M. ist mittlerweile nicht oft in Österreich. Auch nicht in Europa. Aber als wir uns unlängst nach Jahren wieder einmal gegenübersaßen, vergrub der hühnenhafte Ex-Polizist das Gesicht in den Händen: „Das darf alles nicht wahr sein: Man muss kein Experte für Radikalisierung, Terrorismus und Sicherheit sein, um zu wissen, was als Nächstes passieren wird.“ M. schüttelte den Kopf: „Es hat einen Grund, wieso man auf der ganzen Welt in Flüchtlingslager massiv mit medizinischen, sozialen und integrativen Maßnahmen reingeht. Reingehen muss: Wenn man es nicht tut, ist das der beste Rekrutierungsboden für Terrorgruppen, Gottesmilizen und irre Fanatiker. Das ist doch kein Geheimnis!“

M. artikulierte gut 20 Minuten lang das, was er „sprachlos“ nannte. Wir hatten einander vor Ewigkeiten kennengelernt. M., der junge Polizeioffizier, ich der junge Journalist. M. war in einer Eliteeinheit. Jugendbanden. Fußballfans. Man versuchte, auf die „Kundschaft“ zielgruppenorientiert zuzugehen. Betont cool. Quasi ebenfalls als Gang. In Uniform zwar, aber mit Gang-Codes: Halstüchern. Grüßen. Also auf Augenhöhe der „Kunden“ - bis zu einem bestimmten Punkt halt. Das funktionierte eine Zeit lang gut, stieß aber innerhalb wie außerhalb der Exekutive nicht nur auf Begeisterung.

Als die Truppe aufgelöst wurde, verließ M. die Polizei. Dann verloren wir uns aus den Augen. Kürzlich rief er an: Er sei - kurz - in Österreich. Ob ich Zeit und Lust hätte?

M. arbeitet bei einer UN-Organisation. Als Sicherheitsmensch. Er steht nicht mit kugelsicherer Weste und Schnellfeuergewehr da, sondern behirnt Konzepte. Risikomanagment. Gefahrenreduktion. Individuelle Bedrohungsszenarien.

M.s Job ist es Strategien zum Schutz von UN-Mitarbeiter zu erarbeiten. Die Liste seiner Dienstorte liest sich wie eine Zusammenfassung der weltpolitischen Hotspots. Sein Motto: „Dinge aussprechen, Gefahren analysieren - nie dämonisieren.“

Am wichtigsten sei es, frühzeitig und vorausschauend zu planen. Ohne Scheuklappen. Ohne Rücksicht auf politische oder andere Begehrlichkeiten. Ohne Ideologien, Wunschvorstellungen, Dogmen oder das „political correctness“-Diktat. Aber auch ohne Vorurteile und Berührungsängste. Und immer mit Einfühlungsvermögen, dem Versuch, Motive und Zugänge zu aus der Sicht der Betroffenen zu verstehen - und Respekt im Umgang mit Menschen, Sitten und Gebräuchen. Das sei fast immer mühsam und unbequem, ecke an und mache selten wirklich beliebt - aber es zeige Wirkung.

Eines weiß M. ganz genau: Diese pragmatische Herangehensweise an Problemstellungen ist unösterreichisch. Und wohl auch uneuropäisch. Das werde ihm, sagte M., gerade jetzt, mit Blick auf den Umgang mit dem Flüchtlingsthema, „wieder einmal erschreckend klar“: Niemand schlüssle das Thema nüchtern auf. Niemand analysiere die einzelnen Aspekte separat, agiere situationsbezogen und „on the spot“ - entwickle aber parallel dazu eine große, langfristige Strategie und habe „die Eier auch klar zu sagen, dass das, was im Moment getan werden muss, vielleicht nur für den Ort und den Moment gilt - und wir das Werkel dann, wenn wir das momentane Problem im Griff haben, vielleicht gleich wieder komplett neu strukturieren müssen.“

M. sagt, diese Unprofessionalität mache ihn fassungslos: „Es ist kein Widerspruch, sondern der einzige taugliche Ansatz zu sagen ‚sowohl als auch‘. Also auf der ‚großen’, globalen Ebene: Fluchtgründe in den Herkunftsländern bekämpfen. Die Grenzen nach Europa auch wie Grenzen behandeln. Schleppern das Geschäft vermiesen. Eine geordnete europäisch einheitlich Zuwanderungspolitik etablieren. Aber gleichzeitig - im Jetzt und Hier - die Menschen die schlicht und einfach derzeit hier sind, menschenwürdig und mit Respekt behandeln. Und ihnen keinen Grund geben, zu verzweifeln. Nicht aus gutmenschlichem Altruismus - sondern aus purem, egoistischem Selbstschutz“

Er habe, sagt M., derlei Weisheiten weder erfunden noch gepachtet: „Das ist Hausverstand: Niemand käme auf die Idee, sich bei kleinen Kindern das Geld für Zahnpflege zu ersparen, weil die Milchzähne demnächst eh ausfallen, man später eine Regulierung braucht und mit 70 dann die Dritten kommen: Dass diese Form des Junktimierens idiotisch ist und nur Probleme schafft, muss man niemandem erklären. Aber die Politik argumentiert zum Flüchtlingsthema genau so. Und die Leute steigen voll drauf ein.“

Der Sicherheitsprofi war noch nicht fertig: Gerade im Umgang mit denen, die in Lagern zusammengepfercht zum wochen-, monate- oder sogar jahrelangem Nichtstun verurteilt wären, ginge es „erst in dritter oder vierte Linie darum, ob - und wenn ja, wer - hier wie und wie lange bleiben dürfen soll: Zuerst einmal geht es um eine Grundversorgung. Aus ganz egoistischen Gründen: wegen der Hygiene und der Gesundheit - auch der der einheimischen Bevölkerung.“

Dann kam M. zurück zum Ausgangspunkt: Dem „Druckkochtopf“ aus frustrierten, unbeschäftigten und sich selbst überlassenen Menschen in Isolation und Perspektivenlosigkeit. Den habe er in den letzten zehn Jahren oft genug auf seinem Weg zum Explosionspunkt beobachtet - und auch gelernt, wo das Ventil sitzt: „Und wenn ich nur Fußballtrainer, Handarbeitslehrer und Clowns reinschicke: Alles ist besser, als dieses verordnete Nichtstun. Dieses amtliche Verhindern von Integration, Sprachenlernen, Sich-Einbringen oder Perspektivenentwickeln. So wird ein Nährboden geschaffen. Für Parallelstrukturen und -gesellschaften in denen Radikalisierung, falsche Propheten, Verschöwrungstheoretiker und Prediger von der besseren Ordnung im Gottesstaat ungehindert säen und ernten können. Und werden. Das sieht ein Blinder. Dafür gibt es Beispiele. Weltweit.“

Genau deshalb, schloss M., verstehe er eines nicht: „Gerade die Law & Order-Parteien, diese so laut um Wohlergehen und Sicherheit ‚unserer‘ Leute besorgten Politiker, müssten doch die ersten sein, die genau dieses massive Reingehen mit Ärzten, Lehrern, Sozialarbeitern, Psychologen und Beschäftigungsprogrammen vehement fordern.“ M. macht eine Pause. „Wenn ihre Besorgnis echt ist. Oder aber sie wollen, dass es schlimmer wird. Dann ist das, was jetzt passiert, genau die richtige Strategie. Und dann Gnade uns in fünf Jahren Gott.“

Journalist Thomas Rottenberg schrieb diesen Text wenige Tage vor der schrecklicken Tragödie im Burgenland, wo mehr als 70 Menschen ein grausames Ende fanden.

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