Man zieht ein Buch aus der zweiten Reihe des Regals und wundert sich dann, dass man es besitzt (und vor Jahren sogar einmal gelesen hat). Im vorliegenden Fall handelt es sich um die Anthologie "Mein Lieblingsbuch", ein kleines Hardcoverbändchen aus dem Jahre 2005. Ich hatte es nach der Lektüre behalten, weil ich einige kluge Beiträge gefunden hatte, von Dietmar Dath zum Beispiel oder von Wilhelm Genazino (über Schernikau bzw. Aichinger).

Der Journalist Dirk Schümer (erst FAZ, jetzt Welt) hat Meyers Konversationslexikon von 1902ff. als Lieblingsbuch gewählt, erschienen "kurz vor dem Suizid des bürgerlichen Zeitalters". Er lobt die "Artikel und Tafeln zu allen naturwissenschaftlichen und technischen Errungenschaften" ebenso wie die "Abschweifungen", die den "souveränen und selbstgewissen" Gestus des Buches belegen. Ich kann ihn verstehen. Ich besitze diese Ausgabe ebenfalls und sie ist stets eine Quelle des ebenso beständigen wie verlorenen Wissens, ich würde aber nicht von den "Tröstungen dieses Buches" sprechen, vor allem nicht von derjenigen, welche Schümer anlässlich des Eintrags "Auschwitz" empfindet, das 1902 noch nicht mit dem Grauen des deutschen Menschheitsverbrechens assoziiert wurde, sondern nichts weiter war als eine "Stadt in Galizien" mit "Fabriken für Schrauben und Nieten, Likör und Dachpappe" und "6838 polnische(n) Einwohner(n), darunter 3664 Juden". Dieser Eintrag ist eher verstörend, deprimierend auch, wenn man weiß, was folgen wird, er ist aber alles andere als tröstlich. Und ich werde den Verdacht nicht los, dass in dem Wunsch, durch alte Lexika getröstet zu werden, die Hoffnung mitschwingt, es werde einmal der Tag kommen, an dem Auschwitz wieder für seinen Likör und seine Dachpappe berühmt sein wird. Und für nichts anderes sonst.

Habe das Buch in einen dieser öffentlichen Bücherschränke gestellt. Wer es findet, darf es behalten.

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Michlmayr

Michlmayr bewertete diesen Eintrag 03.09.2023 10:50:45

Aron Sperber

Aron Sperber bewertete diesen Eintrag 02.09.2023 22:58:15

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