Während die einen allenfalls darauf hoffen dürfen, etwas Besseres als den Tod zu finden, können sich die anderen leisten, das Leben nicht als der Güter Höchstes anzusehen, vor allem, wenn es sich nicht um das eigene handelt. Und so erklärt der Philosoph, pardon: Schriftsteller, Philosoph, Publizist (wolfram-eilenberger.de) Wolfram Eilenberger in „liberal“, dem Magazin der Friedrich-Naumann-Stiftung: Es gibt noch wesentlich üblere Schicksale als den Tod, nämlich das Schicksal einer Existenz, die dauerhaft jeder Form alltäglicher Selbstbestimmung und damit Eigensinnigkeit beraubt bleibt. Es geht, natürlich, um Corona, um Kontktbeschränkungen und Masken, um Geschäftsschließungen und um Restaurants, die ihre Mahlzeiten nur zur Abholung bereit halten, oder, weil wir ja bei Philosophens sind, um den Willen zur Freiheit in unsicheren Zeiten (so der Titel), denn auch in Zeiten der Pandemie sollte man das nackte Überleben nicht zur alles bestimmenden Maxime erklären (so der Untertitel). Zwar interessiert sich Eilenberger herzlich wenig für die vorherrschende Einschränkung alltäglicher Selbstbestimmung, die Erwerbsarbeit, und er hat als Gründungschefredakteur des Philosophie Magazins, (...) gefragter deutscher Intellektueller und auch gern gesehener Talkshowgast (wolfram-eilenberger.de) vielleicht einfach zu viel zu tun, aber die Zeit reicht doch immer, um bei Hannah Arendt nachzuschlagen und dort vom vollends unterdrückten Vegetieren als Daseinsform „lebendiger Leichname“ als Zielzustand totalitärer Systeme zu lesen: In Konzentrationslagern und Gulags, so Arendt, entstehen durch Überwachung, Furcht und Apathie menschliche Wesen, denen sukzessive jede Form der Spontaneität und Eigensinnigkeit ausgetrieben worden sei, ein Kollektiv im permanent gewordenen Ausnahmezustand, das sich und sein Handeln ganz und gar im Zeichen des nackten Überlebens zu verstehen gelernt habe.
Deutschland im Lockdown – ein einziges Auschwitz? So weit möchte der Herr Eilenberger dann doch nicht gehen: Zwar gleicht nichts an der gegenwärtigen Pandemiesituation in Umsetzung und Ziel dieser Extremform, doch während man sich noch fragt, warum ein Vergleich, der nicht stimmt, bzw., so Eilenberger, eine rhetorische Verheerung darstellt, überhaupt herangezogen wird, folgt dem Zwar das unausweichliche Dennoch auf dem Fuße: Dennoch muss aus liberaler Sicht immer wieder daran erinnert werden, dass nicht nur das Überleben, sondern vielmehr das gute und gerne auch bessere Leben das Ziel politischen Handelns bleibt. Es ist zu vermuten, dass mit dem besseren Leben nicht der Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz, eine bezahlbare Wohnung oder gar der Schutz vor Ausbeutung gemeint ist, sondern das Abendessen im besseren Restaurant, der Besuch im Fußballstadion oder der Wochenendtrip ins Ferienhaus, also das Leben, das Eilenberger vor der Pandemie führte.
Und so hat sich der Ausflug zu Arendt und nach Auschwitz doch noch gelohnt: Eilenberger, dem der Mut zu #zerocovid bzw. einem tief illiberalen Systemwechsel sehr verdächtig erscheint, empfiehlt stattdessen den Zukunftsmut eines „schmutzigen Pragmatismus“ (...), der fern von Bürokratismus, Neid und Überregulierung (…) Lösungsstrategien des mündig eingegangenen Restrisikos entwickelt, womit nicht die täglichen Risiken der Spargelsaisonarbeiter oder der Pflegekräfte gemeint sind, sondern das Risiko, dass man der Kellnerin das Trinkgeld nicht mehr bar auf die Hand geben darf. Aber die ist ihr Restrisiko gewiss mündig eingegangen.
Es blieb ihr ja auch nichts anderes übrig. Und vielleicht hat sie ja auch noch das besondere Glück, zum Abschied eine der Weisheiten von Eilenberger zu hören: Dass dieses Leben, womöglich sogar im nächsten Moment, für jeden einzelnen von uns enden mag, geht nicht damit einher, dass es nicht wert sei, lustvoll erkundet und erforscht zu werden. Vielleicht ist sie ja so höflich, ihm in den Mantel zu helfen. Oder, einfacher noch, sie befördert ihn im Geist des schmutzigen Pragmatismus mit einem Tritt in den Hintern lustvoll auf die Straße.
Dass nicht nur deutsche Philosophen geradezu zwanghaft an Auschwitz denken müssen, wenn man sie dazu nötigt, zum Schutz der anderen eine Maske zu tragen, bewiesen zwei Teilnehmer der letzten Berlin Querdenkerdemo eindrucksvoll: Der eine trug die Mütze eines KZ-Häftlings, der andere hielt vor dem Holocaustdenkmal das Tagebuch der Anne Frank hoch und trug gleich zwei „Ungeimpft“-Judensterne.
Und deswegen kann auch ich Merkels Einsperr-Gesetz (Bild) nicht gutheißen. Es kommt für die Deutschen 76 Jahre zu spät.