Video: Eugen Egner wird 70 oder Die Blödheit des Bürgertums, Teil 1

Dass fantastische Literatur – oder genauer: Literatur mit fantastischen Elementen – keinen Bezug zur gesellschaftlichen Wirklichkeit habe, ist ein Märchen, das nur zu gerne geglaubt wird. Dr. Kafka, der die grauenhaften Zustände in der böhmischen Industrie, um deren Arbeitsschutz er sich kümmern sollte, genau kannte, wusste, wie der Kapitalismus Menschen in Ungeziefer verwandelt. Auch in Eugen Egners Prosatexten und Zeichnungen spielt die Wirklichkeit mit ihren alptraumhaften Zügen eine große Rolle, und für mich erzeugen Geräte, die ein unkontrollierbares Eigenleben entwickeln, einen größeren Horror als alle Orks und bösen Zauberer zusammen.

Egner, der heute 70 wird, wohnt in der am Merkwürdigkeiten durchaus reichen Stadt Wuppertal: Da gibt es zum einen die Schwebebahn, seit 1901 eines der modernsten Verkehrsmittel der Welt (warum gibt es nicht mehr Schwebebahnen auf der Welt? – ach ja, man braucht ja Platz für das Auto, die dümmste Maschine, der der Kapitalismus sich erfunden hat), außerdem die Nordbahntrasse, diesen tunnelreichen Radwanderweg hoch über der Stadt, und seit kurzem steht ein Denkmal des großen Friedrich Engels nah beim Opernhaus Barmen, in dem vor 7 Jahren „Der Universums-Stulp“ nach einem Roman von Egner inszeniert wurde. Den Komponisten Stephan Winkler kennt man von seiner Zusammenarbeit mit Max Goldt ( „NUUK“ ), leider gibt es aber von der Oper weder eine DVD noch eine längere youtube-Aufzeichnung, so dass man nicht studieren kann, wie sehr sich der FDP-Politiker Alexander Schmidt blamierte, als er öffentlich verkündete, es müsse sich um ein Werk von psychisch Kranken handeln, mit welcher Aussage er in der Tradition von Nazis und anderen Deppen steht, die jede künstlerische Äußerung, die sie befremdet, psychiatrisieren.

Bürgerliche Liberale verstehen nicht einmal mehr die Kunstformen, welche den Aufstieg der Bourgeoisie begleiteten, nicht die Oper, die aus dem höfischen Kontext befreit und zeitweise zum Massenmedium wurde, und auch nicht den Roman, der nicht mehr die Abenteuer des singulären Abenteurers verhandelte, sondern die Probleme der kapitalistischen Gesellschaft. Erst recht ist nicht mehr erkennbar, warum das Bürgertum einmal eine fortschrittliche Klasse gewesen ist.

Eugen Egner kann das aber an seinem Jubeltag egal sein. „Ein Photo wird gemacht. Nein, es wird kein Photo gemacht. Gar nichts wird gemacht. Da ist nichts mehr zu machen.“

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Don Quijote

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