Mit dem Fahrrad am Ufer eines Flusses unterwegs, auf einem breiten Weg, der es Entgegenkommenden ermöglicht, ohne Schwierigkeiten weiträumig auszuweichen: Abgesehen von Kindern, die auf Rollschuhen oder Fahrrädern unterwegs sind, grüßt niemand mehr, stattdessen treffen mich entweder böse oder bange Blicke, die meisten fahren stur und stumm geradeaus. Auch so eine Folge von Corona: Die deutsche Muffigkeit darf sich wieder einmal ungetrübt ausleben. Währenddessen haut das Innenministerium, genauer ein Staatssekretär, der zuständig sei „für Heimat und Grundsatzfragen“, eine Studie heraus, derzufolge eine „Verrohung der Gesellschaft“ drohe, da es vermehrt zu Denunziationen kommen könne. Eine Gesellschaft, die sich einen Staatssekretär für den ausgrenzenden Kampfbegriff „Heimat“ leistet, kann eigentlich kaum noch weiter verrohen, aber möglich ist auch das, wie die Denunziationen von Muslimen, die sich vor Moscheen versammelten, beweisen. Der rassistische Blockwart: Deutsche Lebensträume werden wahr.
Die SPD entpuppt sich einmal mehr als Partei der kleinen Leute, zumindest der kleinen Leute, welche Aktien von Krankenhausgesellschaften besitzen: Für Pflegekräfte soll das Arbeitszeitgesetz bis Ende Juni nicht mehr gelten, Schichten von bis zu 12 Stunden sind nun ebenso erlaubt wie das Verkürzen der Ruhephasen auf 9 Stunden, das hat Arbeitsminister Hubertus Heil per Rechtsverordnung entschieden. Keine Pointe.
Obwohl der ADAC, die Polizei, die Rettungsdienste davon abraten, ja eigentlich auch der gesunde Menschenverstand: sie sind trotzdem unterwegs, und, wie man liest, häufiger als sonst: Motorradfahrer. Die Straßen sind leerer als sonst, und so können sie, meist wohlsituierte mittelalte weiße Männer, sich ungehindert ausleben bzw. -fahren. Warum eigentlich? Nicht nur, dass sie just for fun die lärmende Welt mit noch mehr Lärm überziehen, sie nehmen bewusst in Kauf, im Falle eines Unfalls ein strapaziertes Gesundheitssystem noch weiter zu strapazieren. Können sie nicht einfach spazieren gehen, wenn sie schon an die frische Luft müssen? Reicht das nicht als „Freiheit“? Besitzen sie keine Fahrräder? Aber nein: beim Motorradfahren zeigt sich, dass die Mittelschicht noch zu der kleinsten solidarischen Geste unfähig ist.
Über einen anderen wohlsituierten mittelalten weißen Mann, über Boris Johnson will ich eigentlich nichts schreiben. Er ist im Moment erkrankt und hat zuvor bewiesen, dass er und seine Regierung unfähig sind, der Corona-Pandemie angemessen und gezielt zu begegnen. Hermann L. Gremliza schrieb einmal sinngemäß, dass die Bourgeoisie ihre talentiertesten Kräfte Jura und Ökonomie lernen lassen, allenfalls die 3. Garnitur erledige in der Politik ihre Geschäfte. Johnson, der sich als Journalist und Romancier („72 Jungfrauen“, der Roman, der ziemlich schlecht sein soll, ist auf Deutsch derzeit nur antiquarisch erhältlich) versuchte, hatte eigentlich schon erledigt, was er erledigen sollte, als er einem Bündnis aus Mob und Elite den Brexit bescherte, nun ist er doch noch Premierminister geworden und so hoffnungslos überfordert, dass er einem fast schon Leid tun könnte. Aber dann denkt man an die Beschäftigten im kaputtgesparten NHS, man denkt an die Menschen, denen er die Hände schüttelte, als er längst damit rechnen musste, infiziert zu sein und dann schüttelt man nur noch den Kopf über eine solche Gestalt.