In der Verrohung der Sprache spiegelt sich die Verrohung einer Gesellschaft wider, selbst wenn es diese, nach den Worten der neoliberalen Säulenheiligen Margaret Thatcher, gar nicht geben sollte. Das oben zitierte Wort von der "Opferanspruchsideologie", eines dieser vielen zusammengeklebten Substantive aus Substantiven, die im Unklaren lassen, ob das Opfer nun Ansprüche erhebt oder hat und welche Rolle die Ideologie - ein im Deutschen merkwürdigerweise negativ besetzter Begriff - überhaupt dabei spielt, dieses sehr eklige deutsche Wort findet sich in einem Artikel, den die "Süddeutsche Zeitung" vor einigen Tagen über einen Pianisten veröffentlichte, der sich die Freiheit nimmt, politisch gegen die AfD und Antisemitismus zu twittern. Deswegen wird ihm, weil er sich weigert, Kryptonazis und Antisemiten mit Verständnis zu begegnen, unterstellt, er gebe sich selbst "ein opfermoralisch begründbares Recht auf Hass und Verleumdung". Und hier wird nicht nur die Sprache ekelig, sondern auch die dahinter aufscheinende Gesinnung, denn wer könnte guten Gewissens zumal Menschen jüdischen Glaubens das Recht auf Hass absprechen? Wer könnte nicht verstehen, dass man nichts als Verachtung empfindet für ein Land und seine Bewohner, die aus der Shoah nichts gelernt zu haben scheinen?
Inzwischen hat die Süddeutsche Zeitung um Entschuldigung gebeten: "Harte Kritik gibt es in der Redaktion am Begriff ‚Opferanspruchsideologie‘, der nach dem Wortlaut des Textes zwar auf soziale Medien allgemein bezogen sei, aber so verstanden werden könne, dass er Levit gilt." Die diffuse Trennung zwischen einer einzelnen Person einerseits und dem Auftreten in sozialen Medien andererseits kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass jedem, der gegen Antisemitismus, Rassismus oder Sexismus vorgeht, weil er auch persönlich davon betroffen ist, vorgehalten wird, er oder sie möge dies doch gefälligst nicht auf Kanälen (Twitter) tun, auf denen man wahrgenommen wird. In der Konsequenz heißt dies, dass die wahren Experten in Sachen Antisemitismus, Rassismus oder Sexismus diejenigen sind, die sich sowieso als Experten für alles begreifen: alte weiße Männer. Und die sind weder Opfer noch haben sie irgendeine relevante Ideologie, nur sehr viele Ansprüche.
Postscriptum: Die SZ wird von den richtigen Leuten richtig verstanden: Auf "Titschis Einblick", dem G-Punkt-Fachmagazin, wird die "Opferanspruchsideologie" als "das ewige Jammern auf Twitter über angebliche Benachteiligung" gelesen, die AfD-Edelfeder Klonovsky erklärte (was diese Typen sich jetzt bereits alles trauen!), dass, wer nichts gegen die AfD schreibe, auch nichts zu befürchten habe ("Niemand hat Levit bedroht, bevor er sich auf verleumderische Weise in den virtuellen Kampf gegen die Untermenschen zur Rechten stürzte." ) und, weil es immer noch etwas tiefer geht, auf der "Achse des Guten" wurde der Pianist als "Staatskünstler" bezeichnet und in eine Reihe mit Gründgens, Furtwängler oder George gestellt.