„Was ist heute der Nutzen von Dichtung?“ Das ist eine Frage, die darum nicht weniger stichhaltig ist, weil sie von so vielen Dummen herausfordernd gestellt oder von so vielen Einfältigen apologetisch beantwortet wird.

(R. v. Ranke-Graves)

Diese Zeilen beschäftigen mich nun schon seit Jahren. Ich habe Gedichte immer nur als nettes Beiwerk der Literatur betrachtet und meine Zeit lieber mit dicken Wälzern wie „Krieg und Frieden“ verbracht.

Trotzdem spürte ich immer eine leise Stimme, die darauf beharrte, dass in Gedichten ein Geheimnis liegt, das sich mir einfach noch nicht erschlossen hat. Und daher begann ich mir selbst einige Fragen zu stellen.

Was unterscheidet lyrische Texte von anderen Arten der Übermittlung? Warum berühren uns Gedichte, und an welchen Stellen? Und wenn wir Gedichte brauchen, wovon ich mittlerweile überzeugt bin, warum, und wozu dienen sie uns?

Was jedem auffällt ist die starke Veränderung die unsere Sprache gerade durchmacht.

Natürlich ändert sich Sprache permanent und passt sich an die neue Lebensumwelt der Menschen an. Aber heute geht es nicht mehr nur darum sondern vielmehr um einen dramatischen Verfall unserer Sprache.

Viele Menschen halten das für ein „Kassandra-Geschrei“. In ihren Augen ändert sich zwar die Sprache, aber sie glauben, dass dies dieselbe Entwicklung sei wie wir sie seit mehr als 2000 Jahren kennen.

Aber sie irren sich, denn sie verwechseln die Quantität der gebrauchten Worte mit der den Worten innewohnenden Qualität.

Sie beziehen sich immer nur auf die Verwendung der Sprache für Dinge im Außen, für die Verständigung über technische Vorgänge oder die Verbreitung von Informationen.

Und auf diese Aspekte bezogen stimmt es vielleicht sogar, dass hier ein normaler Wandel geschieht und sich die Sprache an eine neue Umwelt anpasst.

Kommunikation ist aber weit mehr als das. Viel wichtiger ist die Frage inwiefern sie es schafft, abstrakte Gedanken zu übermitteln und innere Vorgänge auszudrücken.

Inwieweit es durch Sprache möglich ist neue Gedankenräume zu erschaffen, neue Arten des Denkens und Fühlens und eine neue Sicht auf uns selbst als Mensch in dieser Welt zu entdecken.

Und unter diesem Gesichtspunkt stehen wir vor einer besorgniserregenden Entwicklung.

Denn Sprache ist immer ein Abbild ihrer Zeit. In unserer scheinen die wichtigsten Dinge Geld, Macht und Technik zu sein, und deshalb entwickelt sich unsere Sprache zwangsläufig in eine Richtung um diesem Weltbild gerecht zu werden.

Aber durch diese reduzierte Sicht auf die Welt beschneiden wir sie um ihre wichtigste Aufgabe und uns selbst um die Möglichkeit, mit den urmenschlichsten Problemen wie Liebe oder Einsamkeit auf eine produktive Art umzugehen.

Dadurch kann das geschehen, was Cornelia Jentzsch einmal beschrieben hat: „Als ich angefangen habe, über das Leben nachzudenken, haben mir die Worte gefehlt.“

Und genau darum geht es. Wenn wir die Worte verlieren, wenn wir eine nuancierte Sprache verlieren, dann werden wir nicht mehr über eine Welt außerhalb der sichtbaren Realität nachdenken können.

Ausgelöst wurde diese Entwicklung durch den Verlust unserer Buchkultur und ihre Ablösung durch die modernen Massenmedien.

Ich habe hier schon genauer darüber geschrieben (https://www.der-leiermann.com/unsere-sprache/), daher will ich im Folgenden nur zeigen wie drei verschiedene Medien einen je eigenen Zugang zu differenzierten Gedanken und Gefühlen ermöglichen oder verhindern.

Der Film ist ein Medium in dem es in erster Linie um bewegte Bilder geht. Der Text kann wichtig sein, bleibt aber immer sekundär.

Eines der großen Probleme dieses Mediums ist, dass Filme nur eine kurze Zeitspanne haben um die Menschen zu erreichen. Deshalb müssen Gefühle und Gedanken so dargestellt werden, dass man sie sofort erkennt und versteht und das führt zwangsläufig zu einer stark vereinfachten und oberflächlichen Darstellung.

Prosa ist weit besser geeignet um Gefühle darzustellen und sie für sein Leben fruchtbar zu machen. (mehr dazu)

Der Fokus liegt bei dieser Art von Texten auf einer Handlung in der die Gefühle und Gedanken eingebettet sind. Deshalb ist dieses Medium wie kein zweites dafür geschaffen, diese beiden zueinander in Beziehung zu setzen, in Sprache zu transformieren und uns die Möglichkeit zu geben sie in unser Leben zu integrieren.

Aber durch die Abhängigkeit von einer Geschichte erreichen diese Texte selten den Punkt an dem sie über das Sagbare hinausgehen müssten.

Und an dieser Stelle habe ich endlich den Sinn von Gedichten verstanden.

Gedichte machen diesen Schritt, hinaus in Sphären die man nur noch erahnen aber nicht mehr in Worte fassen kann, die aber trotz allem real sind und für unser Menschsein von enormer Wichtigkeit.

Ein gutes Gedicht besitzt eine „innere Schönheit“, und durch die Kraft seiner Sprache kann es unseren Verstand befreien und für einen Augenblick mit einer anderen Welt in Verbindung bringen.

Gedichte haben die Möglichkeit zwischen den Worten einen Blick auf das zu erhaschen, was sich durch Sprache nicht mehr ausdrücken lässt.

Sie können auch feinste Nuancen ansprechen und, was noch wichtiger ist, Dinge andeuten die man nicht mehr aussprechen, aber durch die Kraft ihrer Worte nachempfinden kann.

Gedichte setzen Dinge zueinander in Beziehung die scheinbar nichts miteinander zu tun haben, aber für einen Augenblick zueinander sprechen können.

Deshalb erscheinen sie manchmal unlogisch, sie scheinen abzudriften, sich zu wiederholen und schwer fassbar zu sein. Aber das ist mehr als nur ein Narzissmus des Poeten. Es dient diesem besonderen Zweck, uns aus unserer Zeit herauszureißen und kurz über uns hinaus wachsen zu lassen.

Dadurch geben Gedichte dem Inneren eine Stimme. Sie geraten an die Grenze dessen was sich mit Worten sagen lässt und manchmal darüber hinaus.

Gerade deshalb können sie uns als Schutzschild gegen die heutige Zeit mit ihrer Dauerbeschallung aus Unterhaltung, fremden Gedanken und Meinungen dienen. Nicht um der Realität zu entfliehen, sondern um in unserem Inneren einen Ort der Menschlichkeit zu bewahren, einen Ort der Stille und Imagination, damit dort Inspiration und Liebe wachsen können.

Hier noch ein paar Gedichte von H. Hesse: https://www.der-leiermann.com/hesse-gedichte/

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