An Bundeskanzler Karl Nehammer
Sehr geehrter Herr Nehammer,
Sie haben die bemerkenswerte Leistung vollbracht, die langwierigen Verhandlungen des österreichischen Staatsvertrages und Neutralitätsgesetzes in einem Satz zu formulieren. Die Neutralität "wurde uns aufgezwungen von den Sowjetkommunisten als Preis dafür, dass wir die Freiheit wieder erlangen konnten 1955".
Als Nachhilfelehrer in Geschichte habe ich bislang folgende Quelle als Grundlage meines Unterrichts genommen. Ich formuliere die Erkenntnisse daraus in einem Satz: Ihre Ausführungen widersprechen den Aufzeichnungen des Zeitzeugen und damaligen Staatssekretärs Bruno Kreisky diametral.
Kremayr&Scheria / Manz https://ethos.at
Im 1. Teil seiner Memoiren, "Zwischen den Zeiten (18. Kapitel, Der Staatsvertrag)", erinnert Bruno Kreisky an die Außenministerkonferenz 1954 in Berlin: "Auf der Tagesordnung der Viermächtekonferenz standen damals die deutsche und die österreichische Frage. Wir kamen relativ gut präpariert nach Berlin und hatten vor, die Neutralität Österreichs anzubieten. Bereits ein halbes Jahr zuvor hatten wir den Russen für den Fall des Abschlusses eines Staatsvertrages die Neutralität in Aussicht gestellt; auf dem Bürgenstock war unser damaliger Außenminister Karl Gruber mit Pandit Nehru zusammengekommen. Raab hatte Gruber ausdrücklich ermächtigt, den indischen Premier um eine Vermittlung in Moskau zu bitten. Der indische Botschafter Menon berichtete wenig später, Molotow habe erklärt, das genüge nicht." (458f)
"Die Sowjetunion sei bereit, den vorliegenden Entwürfen zum Abschluß des Staatsvertrags ihre Zustimmung zu geben unter der Bedingung, daß wir uns bereit fänden, eine symbolische militärische Präsenz der Sowjetunion in Österreich zu akzeptieren. Es wurde eine Zahl von 5.000 Mann genannt während damals schätzungsweise an die 46.000 sowjetische Soldaten in Österreich standen. Die sowjetische Militärpräsenz sollte nur bis zum Abschluß eines Friedensvertrages mit Deutschland gelten. (461)
"Wir waren uns vollkommen im klaren darüber, daß wir Molotows Vorschlag nicht annehmen konnten, weil der Abschluß eines Friedensvertrages mit Deutschland ein Dies incertus war. Wir wollten unser Schicksal, wie die Dinge damals lagen, nicht eng an das deutsche binden. [...] Wenn die Russen dablieben, fügte ich hinzu, hätten auch die anderen drei Besatzungsmächte das Recht, in ihrer Zone militärische Einheiten zu unterhalten". (462)
Auf deutscher Seite [...] setzte der Leiter der deutschen Delegation, Herr Blankenhorn, alles daran, einen österreichischen Staatsvertrag zu verhindern. Adenauer fürchtete, daß dies ein fatales Beispiel für Deutschland abgeben könnte." (461)
"Natürlich gab es auch Schwierigkeiten mit den Westmächten. [...] Gemeinsam machten sie den Versuch, uns zu überzeugen, daß wir auf die Neutralitätsformel verzichten sollten. Ununterbrochen redete man auf uns ein, aber wir waren nur zu einer einzigen Konzession bereit gewesen: daß wir das Angebot der Neutralität offiziell erst bei einer späteren Verhandlungsrunde unterbreiten würden." (462f)
"Unverrichteter Dinge fuhren wir aus Berlin ab, und der österreichische Botschafter in Moskau beurteilte angesichts der deutschen Entwicklung nach dem Westen hin unsere Chancen sehr pessimistisch. Als sich in Moskau die Zeichen mehrten, daß Chruschtschow die Nachfolge Stalins antreten werde, legte der Botschafter aber plötzlich großen Optimismus an den Tag." (S. 463)
In weiterer Folge hatte Österreich drei Fragen zu klären: 1. die Ablöse der von den Sowjets übernommenen Betriebe, 2. die Erdölfrage, und 3. die "bei weitem komplizierteste Frage, wie die Neutralität Österreichs definiert werden sollte." (S 466) Die letzten Vorbehalte Molotows betrafen die Garantien gegen einen möglichen Anschluss an Deutschland. Am Ende einigte man sich bekanntlich auf die Formel, Österreich sei "international dazu verpflichtet, eine Neutralität der Art zu üben, wie sie von der Schweiz gehandhabt wird." (471)
"Nach zehn langen Jahren, verschärft durch den Kalten Krieg, ist es aufgrund gemeinsamer Anstrengungen der vier Aliierten zu einem großen Ergebnis gekommen, das internationale Signalwirkung gehabt hat: Österreich, in der Mitte Europas gelegen, hat seine volle Freiheit zurückerlangt." (474)
"Zu Mittag flogen wir nach Hause. Dort wurden wir mit ungeheurem Jubel empfangen. Tausende säumten die Straßen vom Flughafen Bad Vöslau nach Wien. Dieser 15. April 1955 war der größte Tag meines politischen Lebens. Nie wieder, so schien es mir, würde ich ähnliches erleben. Und so ist es bis heute geblieben." (476)
Sehr geehrter Herr Nehammer! Falls diese Nachhilfe zur Erweiterung Ihres Geschichtsbildes beitragen konnte, darf ich darauf hinweisen, dass laut Arbeiterkammer eine Nachhilfestunde derzeit durchschnittlich 37 Euro kostet. Für die neuerliche Lektüre von Kreiskys Memoiren und die kompakte Aufbereitung der erforderlichen Informationen speziell für Sie persönlich habe ich fünf Stunden benötigt. Ihren angemessenen Beitrag bitten wir dem gemeinnützigen Verein Moral 4.0 zu spenden.
Herzlichst, Mag. Hubert Thurnhofer
P.S. Bei der Gelegenheit darf ich auch an unsere Nachhilfe anlässlich Ihres Amtsantrittes im Dezember 2021 erinnern - die Sie freundlicher Weise auch in die Bemessung Ihrer Spende einbeziehen könnten.