Was haben Albert Camus, Alfred Kolleritsch und Michael Köhlmeier gemeinsam? Wie hätte Karl Kraus darauf geantwortet?

Ernst Zdrahal u.a. https://www.thurnhofer.cc/home/observer/677-camus-kolleritsch-koehlmeier

Außer dass ihre Namen auf K beginnen, wenn man sie phonetisch liest, vereint die drei Autoren eine Reise nach K. als Sommerlektüre im Koffer neben meinen Badesachen. Camus‘ „Die Pest“ in Zeiten wie diesen war geradezu zwingend. Von Kolleritsch war ein am 27.2.1980 signiertes Exemplar von „Die grüne Seite“ im Gepäck, ein Roman, den ich schon als Gymnasiast gelesen habe und wieder aus dem Regal holte, als mich Anfang Juni die Todesnachricht des 1931 geborenen Autors erreichte. Von Köhlmeier warteten bereits seit längerer Zeit „Die Abenteuer des Joel Spazierer“ darauf, von mir gelesen zu werden.

Im Unterschied zur weltweiten „Corona-Pandemie“ beherrscht die Pest in Camus' Roman nur eine algerische Hafenstadt, die entsprechend unter Quarantäne gestellt wird. Ansonsten finden sich viele Parallelen der Ereignisse, die „sich 194‘ in Oran zugetragen“ haben, zu heute: Ratlosigkeit der Politiker, Panik, Galgenhumor, Lethargie, Statistiken und nicht zuletzt die Suche nach dem Serum. Im Unterschied zu heutigen Journalisten, die als Synthese von Hof- und Kriegsberichterstattern nicht einmal die Oberfläche des Phänomens „Corona-Pandemie“ objektiv abbilden, geht der fiktive Berichterstatter in Camus' Roman als teilnehmender Beobachter in die Tiefen des Geschehens; und, wie bei Camus nicht anders zu erwarten, bis an den Rand und über den Rand unserer Existenz hinaus.

„… einige … schafften es offensichtlich sogar, sich einzubilden, dass sie noch als freie Menschen handelten, dass sie noch wählen könnten. Tatsächlich aber konnte man zu jenem Zeitpunkt, Mitte August, sagen, dass die Pest sich über alles gelegt hatte. Es gab damals keine individuellen Schicksale mehr, sondern eine kollektive Geschichte, nämlich die Pest und von allen geteilte Gefühle. Am stärksten waren das des Getrenntseins und des Exils, mit allem, was dies an Angst und Auflehnung mit sich brachte.“ (S. 189)

„Aus einleuchtenden Gründen wütete die Pest besonders unter jenen, die die Gewohnheit hatten, in Gruppen zu leben, unter Soldaten, Mönchen oder Gefangenen. … Vom höheren Standpunkt der Pest aus waren vom Direktor bis zum letzten Sträfling alle verurteilt, und zum ersten Mal vielleicht herrschte im Gefängnis absolute Gerechtigkeit.“ (S. 192)

„Viele dieser zuerst amtlichen, dann provisorischen Totengräber starben an der Pest. Welche Vorkehrungen man auch traf, irgendwann wurden sie doch angesteckt. Aber wenn man es genau bedenkt, war das Erstaunlichste, dass es während der gesamten Epidemie nie an Männern fehlte, die diese Arbeit taten. … Bis Ende August konnten unsere Mitbürger also mehr schlecht als recht zu ihrer letzten Ruhestätte gebracht werden, wenn auch nicht anständig, so doch geordnet genug, damit die Verwaltung den Eindruck behielt, sie erfülle ihre Pflicht.“ (S, 200 f)

„Der Erzähler weiß genau, wie bedauerlich es ist, dass er hier nichts wirklich Aufsehenerregendes berichten kann, etwa von irgendeinem tröstlichen Helden oder irgendeiner großartigen Tat, wie sie in den alten Geschichten vorkommen. Nichts ist nämlich weniger aufsehenerregend als eine Seuche, und schon durch ihre Dauer sind große Unglücke eintönig. In der Erinnerung jener, die sie miterlebt haben, erscheinen die schrecklichen Tage der Pest nicht als grandiose und grausame hohe Flamme, sondern eher als ein endloser Leerlauf, der alles zermalmte.“ (S. 204)

Im Gegensatz zu den lebendigen Charakteren und abwechslungsreichen Dialogen in Camus‘ Roman, gelingt es Kolleritsch nicht seinen hölzernen Figuren Leben einzuhauchen. Der Titel erinnert wohl nicht zufällig an Gottfried Kellers „Der grüne Heinrich“, doch „Die grüne Seite“ kann als Bildungsroman nicht reüssieren. Außer, der Leser sucht in einem Bildungsroman Antworten auf Fragen, die er sich noch nie gestellt hat und so auch niemals stellen würde.

„Ich fühle mich draußen frei. Ein Baum ist wirklich etwas! Haben Sie sich schon einmal die Mühe gemacht, die Jahresringe eines gefällten Baumes zu zählen? … ‚Warum fließt der Strom nicht zurück?‘, soll ich als Kind zu meinem Vater gesagt haben. ‚Warum fällt die Blume, die ich wegwerfe, nicht hinauf in die Baumkrone?‘ Nach solchen Fragen spürte ich in meinem Kopf einen Schmerz, der wie eine große Scheibe aus dem Kopf ragte.“ (S. 168)

Zuletzt zu Michael Köhlmeier. Der „Schelmenroman“ über Joel Spazierer lässt ein sehr kurzes Urteil zu: hätte das Nobelpreisglücksrad im Vorjahr nach der Endausscheidung Österreichs statt bei H, beim Buchstaben K gehalten, dann hätte die Welt einen weitaus besseren Literatur-Nobelpreisträger bekommen.

Albert Camus, Die Pest, rororo, 94 Auflage (Anmerkung: man erfährt darin zwar die Namen der Grafiker, die das Cover gestaltet haben, nicht aber den/die Namen des/der Übersetzer)

Alfred Kolleritsch, Die grüne Seite, suhrkamp, 1. Auflage 1976 (Anmerkung: und vielleicht auch die letzte. Jedenfalls findet man Kolleritsch nicht mehr in der Autorenliste des suhrkamp-Verlages)

Michael Köhlmeier, Die Abenteuer des Joel Spazierer, dtv, 3. Auflage 2016 (Anmerkung: stand demnach bei mir schon etwas länger in der Warteschlange)

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