Jeder erinnert sich an den „Kanzler der deutschen Einheit“. Es ist an der Zeit, auch einmal an den Bundespräsidenten der Einheit zu erinnern: Richard von Weizsäcker, der vor fünf Jahren verstorben ist. 2009 veröffentlichte er sein Buch „Der Weg zur Einheit“ über seine Sicht der Nachkriegsgeschichte Deutschlands.

Bild: Paul Kaminski, Foto: thurnhofer.cc www.ethos.at

Am Anfang berichtet Weizsäcker über seinen Besuch bei Michail Gorbatschow im Sommer 1987, der von der „deutschen Frage“ damals nichts wissen wollte. Gorbatschows Gegenbesuch in Berlin im Oktober 1989 kann dagegen als Startschuss für die Wiedervereinigung gesehen werden. Gorbatschow prägte damals den Satz: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“ Damit wollte „Gorbi“ nicht seinen DDR-Genossen „Honi“ ermahnen, sondern seinen marxistischen Fatalismus artikulieren. Laut Weizsäcker meinte Gorbi, „Dass nicht wir Staatenlenker den Verlauf der Geschichte bestimmten, sondern dass es die Geschichte selbst sei, die alles entscheide. Wir dürften ihr nicht vorgreifen, sie aber auch nicht verpassen.“ (S. 12)

In seinem Buch widmet Weizsäcker (Bundespräsident von 1984 bis 1994) Gorbatschow ein eigenes Kapitel. „Er empfand es als seine Verantwortung, dem unaufhaltsamen Anwachsen der Kräfte zur nationalen Selbstbestimmung nicht mehr mit Waffengewalt entgegenzutreten. Sein Land hat ihm seine Führung auf diesen Weg nie gedankt. Aber es war Gorbatschow, der dem vierzigjährigen Kalten Krieg zu einem unblutigen, gewaltfreien Ende verhalf.“ (S. 88)

Warum ist Gorbatschow bis heute in Russland unbeliebt? Er hat mit seiner Perestrojka und Glasnost von Russland aus den Eisernen Vorhang aufgebrochen. Aber er hat Russland selbst nicht vom Kommunismus befreit. Er hat nach seiner Amtseinführung 1985 für Aufbruchstimmung und erstmals offene Diskussionen in der Sowjetunion gesorgt. Doch nach dem Fall der Mauer, über den in den Sowjet-Medien live berichtet wurde, hat die Stimmung in Russland umgeschlagen, denn dort ist alles beim Alten geblieben. Gorbatschow hat weiter nur geredet, (lange Reden waren und sind sein Markenzeichen) aber nicht gehandelt. Das hat den „Bruderländern“ des Ostblocks geholfen, aber die Bevölkerung des eigenen Landes in Wut versetzt und sein politisches Ende eingeläutet. Diese Perspektive ist für Politiker des „Westens“ bis heute offenbar nicht nachvollziehbar.

Zurück zum Ende der DDR: „Das System hatte seine Handlungskraft eingebüßt. Die staatlichen Instanzen waren zu einer geordneten Herrschaft außerstande. So waren es die Bürger, die die Mauer überwunden haben, die Bürger im Osten. Sie waren die Hauptakteure in diesen unvergesslichen, dramatischen Wochen.“ (S. 96) Die Welt ist begeistert! Weizsäcker zitiert dazu Aussagen des indischen Ministerpräsidenten Rajiv Gandhi, des nigerianischen Freiheitskämpfers Wole Syoinka, des regierenden Berliner Bürgermeisters Walter Momper und natürlich die Aussage von Willy Brandt: „Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört: das gilt für Europa im Ganzen.“ Und wo bleibt da der Kanzler der Einheit? „Bundeskanzler Kohl kam von seinen Warschauer Amtsgesprächen sofort herbeigeflogen.“

Herbeigeflogen – noch nie hat es ein führender Politiker geschafft, die Leistungen eines anderen Politikers, eines Parteifreundes wohlgemerkt, mit einem einzigen, scheinbar harmlosen Wort so radikal zu vernichten. Der Ruhm gebührt nicht Kohl, sondern Gorbatschow, so könnte man Weizsäckers Ausführungen lesen: „Gorbatschow hatte wahrscheinlich ziemlich rasch die Überzeugung gewonnen, dass eine Annäherung und Vereinigung der beiden deutschen Staaten schließlich nicht aufzuhalten sein werde. Zugleich wollte er eine Eingliederung des vereinigten Deutschland in die NATO mit Vehemenz verhindern.“

Gorbatschow hat diese Position in allen folgenden Gesprächen mit Außenministern der USA und Großbritanniens vertreten. „Bei diesen Verhandlungen verstand er die amerikanische Position wie folgt: Einerseits dürfte Deutschland nicht in eine neutrale Position zwschen Ost und West entlassen werden. Andererseits solle und dürfe es nur deshalb in die NATO aufgenommen werden, weil ja die beiden Bündnisse NATO und Warschauer Pakt im Übrigen unverändert bestehen bleiben würden. Unter dieser Prämisse ließ sich Gorbatschow schließlich auf die amerikanische Haltung ein.“ (S. 115)

Im Übrigen ist bekannt, wie lange diese Prämisse Geltung hatte. Am 12. März 1999 sind Polen, Tschechien und Ungarn der NATO beigetreten.

Im Übrigen hat die NATO heute 28 Mitglieder im Unterschied zu 16 in Zeiten der Bedrohung durch die Sowjetunion.

Deutsche Politiker, die Gorbatschows Nachfolger Wladimir Putin gerne als Aggressor titulieren, haben diese Zusage offenbar vergessen. Weizsäcker, der Russland als Nachbarn bezeichnet, ist überzeugt, „dass eine Verweigerung der Zusammenarbeit mit Russland oder gar eine veritable Abkapselung gegen den Osten gerade nicht einen wirklich soliden Schutz erzeugt.“ (S. 181) Weizsäcker schreibt dies im Kapitel „Europas Aufgaben in der Welt“, in dem er nebenbei auch erwähnt: „Ein anderes positives europäisches Beispiel ist der Klimaschutz. […] Klimaschutz bedarf rascher technischer Fortschritte.“ Publiziert 2009, nur zur Erinnerung an jene, die heute bereits Greta wie eine Heilige verehren, im Glauben, sie habe den Klimaschutz erfunden.

Im Übrigen bin ich der Meinung, dass die NATO 30 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion als Verteidigungsbündnis gegen den Warschauer Pakt keine Existenzberechtigung mehr hat. Ein völlig absurdes Sammelsurium von Mitgliedern, die fast keine gemeinsamen Interessen und absolut keine gemeinsamen Bedrohungsszenarien haben.

Richard von Weizsäcker: Der Weg zur Einheit

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