Und plötzlich reden alle über European Skyshield Initiative ESSI. Während die FPÖ tobt, erklärt Außenminister Alexander Schallenberg im ORF-Talk ("Pressestunde"), ESSI sei (naturgemäß!) mit Österreichs Neutralität vereinbar. So sieht das offenbar auch Ex-Außenminister Wolfang Schüssel. Von ihm stammt der Titel dieses Beitrags. Seine Logik: NATO Beitritt, ESSI - her damit, denn die Neutralität gilt sowieso nicht mehr.
Furche.at Schüssel mit Putin in besseren Zeiten
Seit Ausbruch des Russisch-Ukrainischen Krieges haben Österreichs Regierungspolitiker und viele Intellektuelle ein neues Lieblingsthema: die Unterstützung der Ukraine "zur Verteidigung unserer Werte" und gleichzeitig die Abschaffung eines Grundwertes der österreichischen Souveränität: der Neutralität! Nun bekommt diese Allianz ein neues Mitglied: Ex-Kanzler und Ex-Außenminister Wolfgang Schüssel, der im Rotary-Magazin (1.7.23) den Artikel "Neutralität ist kein Schutz" publiziert hat.
Mit Hinweis auf die Novelle des Artikel 23j B-VG kommt Schüssel zu der zweifelhaften Schlussfolgerung: "Die Neutralität gilt nicht mehr. Wir haben zwar seit unserem EU-Beitritt 1995 unsere Hausaufgaben gemacht und die förmliche Verpflichtung übernommen, an der Gemeinsamen Außenund Sicherheitspolitik der EU (Gasp) mitzuwirken. Mit dem einstimmig verabschiedeten Lissabon-Vertrag (in Kraft seit 2009) wurde eine wechselseitige Beistandsverpflichtung bei einem bewaffneten Angriff vereinbart. In der österreichischen Bundesverfassung wurde dem durch die Novelle des Artikels 23 j Rechnung getragen. Einfach gesagt wird damit die Neutralität für den gesamten Bereich der Gasp und der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) ohne jede Einschränkung außer Kraft gesetzt. Anders formuliert: Bei jedem EU-Beschluss (wie auch bei einem UN- oder OSZE-Mandat) gilt die Neutralität nicht mehr. Vielleicht wäre es hilfreich, diese Zusammenhänge der Öffentlichkeit deutlicher zu machen. Denn der russische Angriff auf die Ukraine hat wohl endgültig alle Illusionen zunichtegemacht, dass das neutrale Österreich eine ungefährdete friedliche Insel wäre."
Mit dieser Interpretation der österreichischen Verfassung wird er wohl euphorische Zustimmung bei den Initiatoren von "unseresicherheit.org" finden, bei der sich die wichtigsten Wichtigmacher der Nation zusammen gefunden haben, unter ihnen Rudolf Fussi, Irmgard Griss, Robert Menesse, Robert Misik, Antonella Mei-Pochtler. Mit zwei öffentlichen Briefen sind sie Anfang 2022 an den Bundesminister, die Bundesregierung, den Nationalrat und sogar an die Bevölkerung getreten (siehe ethos.at 19.5.22) Auch wenn hier eine "offene Debatte über den NATO-Beitritt" gefordert wird, so determinieren die Argumente der Unterzeichner das Ergebnis, und zwar die Forderung des Beitritts Österreichs zur NATO.
Die Alternativlosigkeit der NATO ist auch das Leitmotiv von Schüssels Artikel: "Schweden und Finnland haben sich innerhalb weniger Wochen nach dem 24. Februar 2022, der die Sicherheitspolitik Europas nachhaltig verändert hat, für die Aufgabe ihrer Bündnisfreiheit und für einen Nato-Beitritt entschieden. [...] die enge Kooperation mit EU-Partnern und Synergien in der Zusammenarbeit mit der Nato im Rahmen der Partnership for Peace (PfP) sind jedenfalls unerlässlich."
Zum Standard der Propaganda-Retorik gehören Formulierungen wie "russischer Überfall" und das Bekenntnis "Österreich hilft der Ukraine politisch, humanitär und wirtschaftlich und trägt solidarisch alle Sanktionen gegen Russland mit". Eine infame, und bislang einzigartige Entgleisung in der Diskussion für oder gegen Neutralität ist die Gleichsetzung der Neutralität mit einer Ideologie.
Schüssel empfiehlt die Bündsfreiheit "als Weg aus dem Elfenbeinturm der Neu tra li tätsideo lo gie" (sic! Genau in dieser Typgrafie, die in dem Kontext kein Fehler der Schreibsoftware sein kann, sondern offenbar ein Versuch der Verschleierung, um den Begriff Neutralitätsideologie unauffindbar für die Suchmaschinen zu machen. Man muss davon ausgehen, dass Schüssel intelligent genug ist, zu wissen, dass er mit seinem Neologismus all jene, die redlich und mit guten Gründen für die Neutralität eintreten, als Vertreter einer ominösen Ideologie diffamiert, und diese Diffamierung mit einem kleinen Trick bewusst verdeckt.)
Nachsatz: Schüssel hat nach Ausbruch des Russland-Ukraine-Krieges erklärt, dass er sein Mandat bei dem russischen Erdöl-Konzern Lukoil nicht zurücklegen werde. Das Unternehmen sei an der Londoner Börse notiert und keine Staatsfirma (Quelle: ORF.at 24.2.22) Bis 4. März 2022 hat der Ex-Kanzler, der mit seiner Pension offenbar nicht das Auslangen findet, gebraucht, um sich neu zu orientieren und seine gut bezahlte Position doch aufzugeben. Ein Bericht in der Wiener-Zeitung darüber ist zwar noch auf google auffindbar, aber auf der Seite wienerzeitung.at nicht mehr abrufbar. Das Wahrheitsministerium, das seit 1. Juli die Wiener Zeitung regiert, hat damit dem Ex-Kanzler, der in der Neutralitäts- und NATO-Frage auf Regierungslinie ist, die Referenz erwiesen: "Seite wurde entfernt. Diese Seite ist nicht mehr verfügbar."
ERGÄNZUNG 5.7.23: Kundgebung gegen Überfall auf die Neutralität am 7.7.23