Es ist wahrhaftig eine akrobatische Meisterleistung, in einem epochalen Werk über die Zivilisationsgeschichte die Begriffe „Ethik“ und „Moral“ weitgehend zu vermeiden. Es ist jedoch der Gipfel dieser neuen Weltanschauung, jene (höheren) Institutionen, die seit Jahrtausenden Moralen erfunden sowie verbreitet und damit Menschen geprägt und unterdrückt haben, nämlich die Religionen, einfach auszulöschen. Nicht gedankenexperimentell oder arbeitshypothetisch sondern postfaktisch.
Sloterdijk wörtlich: „Es geht in unserem Unternehmen um nicht weniger als um die Einführung einer alternativen Sprache, und mit der Sprache einer veränderten Optik, für eine Gruppe von Phänomenen, für welche die Tradition Ausdrücke wie 'Spiritualiät', 'Frömmigkeit', 'Moral', 'Ethik' und 'Askese' anzubieten pflegte. Gelingt das Manöver, so wird der herkömmliche Religionsbegriff, jener unselige Popanz aus den Kulissenhäusern des modernen Europa, als der große Verlierer aus diesen Untersuchungen hervorgehen. … Wir haben gegen eine der massivsten Pseudo-Evidenzen der jüngeren Geistesgeschichte anzugehen: gegen den seit erst zwei- oder dreihundert Jahren in Europa grassierenden Glauben an die Existenz von 'Religionen', mehr noch, gegen den ungeprüften Glauben an die Existenz des Glaubens.“ (S. 14f)
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Das neue Menschheitsepos, in das uns der Meisterdenker hineinmanövriert, lässt den „Hyperpopanz“ Kultur (wohl aufgrund des evidenten Naheverhältnisses zum Kult) getrost beiseite und erzählt die Zivilisationsgeschichte als Entwicklungsgeschichte von Anthropotechniken auf dem „Planeten der Übenden“. Damit der übende Mensch nicht in der ewigen Wiederkehr des Gleichen versandet, braucht er Akrobaten, zu denen er aufschauen kann. Ohne Vertikalspannung keine Entwicklung der Disziplinik, die aus Sicht von Sloterdijk das nächste Jahrhundertprojekt ist: „Ihre Implementierung erforderte (sic!) eine zeitgemäße Transformation der Universitäten und Hochschulen...“ (S. 247). In Wahrheit meint Sloterdijk ganz einfach die Entwicklung der wissenschaftlichen Disziplinen, so wie es beim Üben in Wirklichkeit um Disziplinierung geht. Doch das bringt er nicht explizit zum Ausdruck, wohl deshalb, weil er nicht den Habitus des Oberlehrers annehmen will.
Sloterdijk ist vielmehr der Reinhold Messner der Philosophie, der Gipfelstürmer, dem jede bisherige Philosophie, Denkungsart, Weltanschauung und Wissenschaft nur als Basislager dient. „Das einzige Privileg der Kultur gegenüber der Natur besteht in ihrer Fähigkeit, die Evolution als Kletterpartie auf dem Mount Improbable zu beschleunigen.“ (S. 189) So wie Messner erstmals die Achttausender dieses Planeten ohne Sauerstoffgerät bewältigt hat, so überwindet Sloterdijk in einem Atemzug „die Übungssysteme des Hinduismus, des Buddhismus, des Christentums, des spirituellen Islam“, die letztlich alle „endorhetorische Wendungen von vergleichbarer Tendenz bieten“. (S. 367) Was „endorhetorisch“ heißt, oder zumindest, was Sloterdijk damit meint, das verrät er uns nicht.
Im Seil, das Sloterdijk zwischen nicht näher definierten Orten, die er „Osten und Westen“ nennt, gespannt hat, verbinden sich „Dasein und Eile haben“ zu einer Einheit, „so wie die Nötigung zur Eile und der Wille zur Perfektion zusammengehören. In diesem Punkt konvergieren der scheinbar so geduldige Osten und der manifest so ungeduldige Westen.“ (S 380) Doch letztlich stolpert der Meisterdenker über sein eigenes Abrakadabra, natürlich unfreiwillig, und zwar im Kapitel Ästhetik und Akrobatik: „Akrobatik ist überall im Spiel, wo es darum geht, das Unmögliche wie eine leichte Übung erscheinen zu lassen. Es genügt also nicht, auf dem Seil zu gehen und in der Höhe den salto mortale zu schlagen. Die entscheidenden Botschaft des Abrokaten (sic!) an die Mitwelt liegt in dem Lächeln, mit dem er sich nach dem Auftritt verbeugt.“ (S. 307)
Es ist schon verwunderlich, dass der „Abrokat“ überhaupt eine Botschaft hat. Folgt er gar einer Mission? Da Sloterdijk dem Appell „Du mußt dein Leben ändern“ von Anfang an nur über einen ästhetische Umweg, nämlich ein Gedicht von Rainer Maria Rilke, Relevanz verschaffen kann, so folgt daraus, dass weder eine Botschaft, noch ein Appell zureichend begründbar sind.
So bleibt: „Die einzige Tatsache in der aktuellen Welt von universaler ethischer Bedeutung ist die diffus allgegenwärtig wachsende Einsicht, daß es so nicht weitergehen kann.“ (S. 699) Als Eingeständnis des Meisterphilosophen ist das bewegend, aber als Erkenntnis nicht gerade weltbewegend. Das sage ich hier nicht in satirischer Absicht, sondern im aufrichtigen und ehrlichen Bedauern dafür, dass jahrzehntelange asketische Übungen (so kann man das Verfassen voluminöser Bücher wohl bezeichnen) den Philosophen zu keiner höheren als dieser Erkenntnis geführt haben.
Doch Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit sind wohl „Nachkommen der Himmelsvertriebenen“, oder Begriffe aus dem „Proviant der Verzweifelten“, die der Meisterphilosoph aus seinem Wortschatz gelöscht hat. So wird auch diese kurze Kritik schwerlich das Selbstbewusstsein jenes Autors erschüttern können, der dem Leser seines Heldenepos von Seite eins bis 723 (inklusive Inhaltsverzeichnis) ein abwechslungsreiches, ästhetisches Vergnügen bereitet hat. Daneben muss diese Exegese in exakt 723 Worten (inklusive Titel) wie die Proletenpassion eines Kindes „der banalisierten Aufklärung“ wirken.