Auch in diesem Jahr lasse ich mir den Wien-Marathon nicht entgehen. So wie jedes Jahr bin ich ganz vorne mit dabei, in der ersten Reihe naturgemäß! Um genau zu sein in der ersten Zuschauerreihe. Und ich frage mich: was zwingt oder verleitet oder motiviert tausende Menschen ohne Unterschied von Rasse und Geschlecht, nach Angaben der Veranstalter exakt 42.766 Menschen aus 125 Nationen, diese Tortur auf sich zu nehmen.
Da ich gerade Nietzsche lese ist der Gedanke naheliegend, es sei der Wille zur Macht. Denn bei Nietzsche ist so gut wie alles auf den Willen zur Macht zurück zu führen. Doch Macht hat der Wille zur Macht in diesem Falle über niemand anderen als über den eigenen Körper. Das mag zutreffen auf die Kenianer Albert Korir und Ishmael Bushendich, die sich im Zieleinlauf ein sehenswertes Duell geliefert haben.
Doch jene Läufer, die ohne Erschwerniszulage Tonnen von Fett über den Ring wälzen – nicht als Individuen, sondern als Kollektiv, und jene Senioren, denen ich in der U-Bahn sofort meinen Sitzplatz überlassen würde, und jene Gänse und Gänseriche, die brav den Mittelmäßigen, die immerhin noch Laufschritte andeuten, hinterher watscheln – all diese bedauernswerten Kreaturen – wurden die von ihrem Willen zur Macht vergewaltigt, oder war es der Wille zum Masochismus, der sie zum Marathon getrieben hat?
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Die Umwertung der Werte legt diese Deutung nahe: was den athletischen und heroischen Gewinnern des Marathons der Wille zur Macht über den eigenen Körper, das ist den Sklaven, die hinterher laufen, der Wille zum Masochismus, umgedeutet, schöngeredet und getarnt als Wille zur Gesundheit. Denn die Liebe zur Gesundheit hat die vom Christentum geforderte Liebe zu Gott abgelöst. So ist es wohl eine natürliche Entwicklung, dass ein Marathon am Sonntag mehr Leute anzieht als jede Sonntagsprozession in der Kirche.
Hubert Thurnhofer www.thurnhofer.cc
Was mich – Jenseits von Gut und Böse, wo man lesen kann "Moral ist heute in Europa Herdentier-Moral" – mehr interessiert, nämlich in Bezug auf meine Thesen für das Buch Moral 4.0, sind folgende Fragen:
- Ist Gesundheit ein Grundwert, oder gar der wichtigste Grundwert unserer Zeit?
- Ist der Fitnesskult nur als Kult zu verstehen, oder tatsächlich ein medizinisch geprüftes Rezept für ein besseres Leben?
- Ist die Selbstbeherrschung - im Spannungsfeld zwischen Selbstüberwindung und Selbsterniedrigung - ein Mittel um ein besserer Mensch zu werden – oder geht es in Wahrheit bei den Marathonläufern nur um die Trophy?
Denn auch der Letzte, der ins Ziel watschelt, kann am nächsten Tag vor seinen Freunden und Kollegen triumphieren, bei einer olympischen Disziplin dabei gewesen zu sein.