... du sitzt auf einem völlig überfüllten Schiffskutter irgendwo im Mittelmeer nördlich von Libyen. Zwischen deinen Beinen liegt ein Sack mit den wenigen Habseligkeiten, die du tragen konntest. Mit dir befinden sich noch hunderte andere Menschen an Bord. Die Nacht ist stockdunkel, der Himmel ist bewölkt und es sind keine Sterne zu sehen. Du bist müde, doch schlafen kannst du nicht. Das Schiff schaukelt unruhig und der eiskalte Wind bläst dir ins Gesicht, du versuchst dich so gut wie möglich in der dünnen Kleidung einzuwickeln, die du am Leibe trägst.

Du hattest Glück und konntest einen Platz beim Führerhaus ergattern, du kannst dich an den Holzblanken anlehnen. Vor dir sitzt eine Frau, deren zwei Kinder sich dicht an sie schmiegen. Sie haben Angst und weinen leise. Doch die Mutter versucht sie zu beruhigen. Bald hätten sie es geschafft. Sie sollen nur an ihr schönes, neues Leben in Europa denken. Dort bekommt schließlich jeder so viel essen, wie er will. Die Leute haben sogar so viele Nahrungsmittel, dass sie jeden Tag Unmengen davon wegwerfen müssen. Das müsse sich einmal einer vorstellen!

Essen. Nur nicht daran denken. Dein Magen knurrt. An deine letzte Mahlzeit kannst du dich gar nicht mehr erinnern.

Die Kinder lassen sich nicht beruhigen. Sie fragen nach der Großmutter, die sie zurücklassen mussten. Warum konnte sie nicht mitkommen? Sie wollen zurück nach Hause. Die Mutter weiß nicht mehr weiter. Sie beginnt ein Lied zu summen, das ihre Großmutter bereits ihr vorsang.

Auch du denkst dir: Bald ist alles vorbei. Nur noch über das Meer und es ist geschafft. Du bist schon so weit gekommen. Es waren 2.500 Kilometer, die du von deinem Heimatdorf in Niger bis zur Küste Libyens zurücklegen musstest. Du hattest schon so viel Glück. Anders als die Familie aus deinem Nachbarsdorf: Ihr Lastwagen ist kurz nach der Grenze von Algerien in der Wüste liegen geblieben. Die Achse des verrosteten Vehikels konnte der Last der vielen Menschen nicht mehr Stand halten. Nur fünf konnten sich zum nächsten Brunnen retten. Die übrigen 28 sind verdurstet. Manche Frauen mussten ihre toten Babys einfach im Sand liegen lassen, sie selbst benötigten all ihre Kraft, um sich noch ein Stück weiter zu schleppen. Doch irgendwann brachen auch sie zusammen.

Es muss klappen. Es ist nicht mehr weit. Zurück kannst du nicht mehr – du hast deinen gesamten Besitz, deine Hütte, deine Ziege und den Hausrat verkauft, um den Schlepper zu bezahlten. Besser eine ungewisse Zukunft als gar keine.

Du schließt die Augen und versuchst diese schrecklichen Bilder von den Toten in der Wüste aus dem Kopf zu bekommen. Du hast von dem Unglück erst vor dem Auslaufen des Schiffes von einem der Überlebenden erfahren. Endlich Schlafen und dann in Europa aufwachen, das wärs. Doch dein gesamter Körper tut dir weh. Wochenlang musstest du eingepfercht zwischen anderen Menschen in einem Bus verbringen, die Fahrt ging über holprige Wege, der Motor knatterte laut und es stank permanent nach Benzin. Nun riecht es nach verfaultem Fisch. Doch das macht dir nichts mehr aus.

Plötzlich beginnt es zu regnen. Der Wind wird stärker und das Schiff wird immer heftiger hin- und hergerüttelt. Ein Sturm zieht auf. Die Kälte kriecht durch deine Kleidung und frisst sich durch die Haut, bis auf die Knochen. Du beginnst zu zittern.

Auf einmal prallt eine hohe Welle an das Backbord und reißt fünf Menschen mit. Schreie, Panik. Alle versuchen sich irgendwo am Schiff festzuhalten, doch es ist kaum Platz. Ein Gerangel beginnt, drei weitere Personen gehen über Bord. Der Besitzer des Kutters, der selbst das Steuer lenkt, schreit, es sollen sich alle sofort beruhigen. Er habe einen Funkspruch abgesetzt, Hilfe würde gleich kommen. Er schaltet erstmals das Licht ein. Zuvor wollte er um keinen Preis entdeckt werden – nun betet er darum, gefunden zu werden.

Chaos, alle schreien durcheinander. Nur die Rufe eines Mannes dringen aus dem Lärm hervor. Er versucht sich mit seiner Frau zu verständigen, die über Bord ging. Die Wellen haben sie jedoch schon weit weg getragen, ihre Stimme ist nicht mehr vernehmbar. Es kann ihr ohnehin nicht geholfen werden – jeder ist damit beschäftigt, sich selbst zu retten.

Die Wellen werden immer höher, du bist schon vollkommen durchnässt. Es kommt dir wie eine Ewigkeit vor, da siehst du das Licht eines anderen Schiffes. Auch die anderen sehen es, sie beginnen zu winken und schreien und versuchen zu der Seite zu gelangen, die dem Schiff am nächsten ist – doch dadurch bringen sie den Kutter zum Kentern.

Du versuchst Halt zu finden, ergreifst jedoch nur andere Körper neben dir. Sie reißen dich mit in das Wasser. Du tauchst unter, über dir fallen weitere Menschen ins Meer, sie drücken dich nach unten, das Salzwasser dringt in deinen Mund und deine Nase ein. Du bekommst keine Luft mehr, doch unzählige strampelnde Beine treten dich weiter von der Wasseroberfläche weg.

Das Verlangen, endlich wieder Luft zu holen, wird unerträglich. Du entwickelst plötzlich eine unglaubliche Kraft und reißt dich an einem Bein hoch. Du atmest so tief ein wie nie zuvor. Das Salzwasser brennt in der Lunge, du kannst nicht aufhören zu husten.

Du strampelst wie alle anderen, schließlich hast du nie schwimmen gelernt. Deine nasse Kleidung ist schwer geworden. Du kämpfst gegen die hohen Wellen an. Die Kälte nagt weiter an dir. In der Panik versuchen sich andere an dir fest zu halten, drücken dich wieder unter das Wasser. Du schüttelst sie ab, darunter auch Kinder, und versuchst das Licht des fremden Schiffes zu erspähen und dich zu ihm zu bewegen, doch die Strömung reißt dich immer weiter weg.

Nach einiger Zeit bist du so erschöpft, dass du dich kaum mehr bewegen kannst. Auch die Schreie um dich herum werden immer weniger. Die Kälte spürst du nicht mehr. Du schluckst immer mehr Salzwasser. Langsam entschwinden dir die Sinne. Du kannst kaum mehr Widerstand gegen die Wellen leisten, sie schaffen es immer öfter, dich unter das Wasser zu drücken ...

In der Nacht von Samstag auf Sonntag ereignete sich die vermutlich größte Flüchtlingskatastrophe, die sich jemals im Mittelmeer ereignet hat. Bis zu siebenhundert Kinder, Männer und Frauen ertranken in den kalten Fluten. Zu ihrem Gedenken wird diesen Montag, den 20. April, um 18 Uhr eine stille Kundgebung am Minoritenplatz zwischen Innen- und Außenministerium stattfinden.

Fordern wir gemeinsam mehr EU-Mittel für humanitäre Hilfsmaßnahmen!

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Herbert Erregger

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