Warum wir nicht helfen

Fassungslosigkeit herrscht angesichts der Herzlosigkeit, mit der zahlreiche Passanten bei einem verstorbenen Mann vorbei gegangen sind und ihn nach einem Herzinfarkt stundenlang in einem U-Bahn-Aufzug liegen ließen. Doch seien wir ehrlich: Hätten wir geholfen?

26. Dezember 2014, Stefanitag. Es ist zwei Uhr Früh und der 58-jährige Elmar W. (Name von der Redaktion geändert) steigt um zwei Uhr Früh in einen Aufzug der U-Bahn Station Volkstheater. Vermutlich ist er auf dem Heimweg, hat mit der Familie oder Freunden bis spät nachts gefeiert, vielleicht ein oder zwei Gläser zu viel getrunken – was nicht verwerflich wäre, schließlich ist ja ein Feiertag.

Vielleicht schob er es auf das letzte Glas Wein, dass er plötzlich Schmerzen in der Brust verspürte. Oder sie überkamen ihn plötzlich. Ich habe mit zahlreichen Herzinfarkt-Patienten gesprochen, die Berichte höchst unterschiedlich. Die einen meinten, dass sie nur ein leichtes Stechen in der Schulter spürten und dachten, sie hätten sich beim Sport übernommen. Andere berichteten, dass sie plötzlich das Gefühl hatten, zwei Mühlsteine zermalmen ihren Oberkörper.

Wie es Herrn W. erging, wissen wir nicht. Wir können aber vielleicht die Todesangst und die Schmerzen erahnen, mit denen er im Fahrstuhl zusammen brach. Ob er die Menschen noch wahrgenommen hat, die ebenfalls in den Fahrstuhl stiegen und ihn liegen ließen, ihn vielleicht abfällig betrachtet haben, im Glauben, vor ihnen läge ein obdachloser Säufer?

Fünf Stunden lang lag er in diesem Aufzug. Die Rettung hat erst um 7 Uhr Früh eine Reinigungskraft gerufen. Eigentlich hätten Mitarbeiter der Wiener Linien ihn bei einem ihrer Routine-Kontrollgänge finden müssen. Doch die Verantwortlichen an diesem Tag unternahmen keinen – und wurden deshalb nun entlassen.

Trotzdem bleibt da diese Fassungslosigkeit: Warum hat ihm niemand geholfen?

Die wissenschaftliche Antwort darauf lautet: Wegen des Bystander-Effekts.

Tatsächlich hat sich die Sozialpsychologie seit den Sechzigern mit dem Verhalten von Menschen in Notsituationen beschäftigt und in mehreren Situationen eindeutig beobachtet: Je mehr Menschen in einer Situation potenziell helfen könnten, umso geringer ist die Wahrscheinlichkeit dafür, dass jemand einschreitet.

Das soll heißen: Wäre der Mann auf einem einsamen Waldweg zusammen gebrochen, hätte jemand, der zufällig vorbei gekommen wäre, mit hoher Wahrscheinlichkeit geholfen – ihm oder ihr wäre klar gewesen, dass es schlicht niemand anderen gibt.

Die Verantwortung wird schlicht auf die anderen abgeschoben: „Warum soll ich helfen, hier stehen so viele andere herum?“

Oft waren in den Versuchen aber auch Personen zu sehen, die zögerten und zauderten, ob sie nicht doch einschreiten sollten. Doch je mehr Zuseher anwesend sind, desto eher wird das eigene Handeln hinterfragt: „Spiele ich mich jetzt groß auf, wenn ich einschreite. Oder wurde ohnehin bereits die Rettung gerufen?“

Ich habe von dem Bystander-Effekt im Zuge einer Vorlesung auf der Universität gehört und bin seitdem selbst in einige Situationen gekommen, in denen ich diesen Effekt leider genau beobachten konnte:

Eines Tages stieg in eine übervolle S-Bahn am helllichten Tag eine Frau mit einer Platzwunde am Kopf ein. Sie blutete stark. Die Fahrgäste starrten sie erschrocken an, doch niemand fragte sie nach ihrem Wohlbefinden.

Ich wusste, dass wegen des Bystander-Effekts auch niemand etwas tun würde. Als stand ich auf, ging zu ihr, fragte sie laut, ob sie Hilfe brauche. Plötzlich wurden die anderen aus ihrer Erstarrung gerissen. Auf ihren Gesichtern war Peinlichkeit abzulesen: „Warum habe ich nicht reagiert?“

Der Frau wurden plötzlich Taschentücher und Wasser gereicht, jemand rief die Stationsaufsicht. Ich musste gar nichts mehr tun, der Stein war ins Rollen gekommen.

Eine andere Situation: Es war Wochenende, spät nachts und die Nacht war bitterkalt. Ich war mit der Nightline gefahren und mit einer Gruppe anderer junger Menschen ausgestiegen. Wir alle gingen dieselbe Straße entlang, ich ging als letztes deutlich hinter den anderen. Ich bemerkte, dass plötzlich einige von ihnen auf etwas am rechten Straßenrand blickten, ihren Schritt verlangsamten – letztendlich aber weiter gingen.

Dann sah ich es: Es war ein junges Mädchen, bestimmt keine 14. Sie war leicht bekleidet, ihre Jacke war hoch gerutscht und man sah ihren Rücken und ihren Bauch. Sie wirkte extrem betrunken.

Sie war nicht ansprechbar und so rief ich die Rettung. Ich hätte sie sonst nach Hause gebracht, ich wollte ihr Ärger ersparen. Doch ich konnte sie nicht einmal alleine hoch heben.

habe keine Ahnung, wie lange sie bereits so da lag, aber sie durfte bereits deutlich unterkühlt gewesen sein. Es war so kalt, dass ich trotz meines Daunenmantels zitterte. Ich hätte ihn gerne über das Mädchen gelegt, doch ich trug darunter nur einen dünnen Pullover und fror bereits enorm.

Es dauerte geschlagene 15 Minuten, bis die Ambulanz endlich eintraf. Die Sanitäter waren jung, einer trug einen Irokesenschnitt – und sie wirkten sichtlich genervt. „Noch so eine Alkoleiche,“ murrte der eine. Gemeinsam verfrachteten sie das Mädchen, das nur leise stöhnte, ziemlich grob in das Innere des Wagens.

Ich war geschockt. Ich habe mir leider das Kennzeichen nicht gemerkt, ansonsten hätte ich mich beschwert. Mir ging nicht ein, warum ausgerechnet Profis mit solchen Vorurteilen ans Werk gingen? Sie sollten es ja besser wissen.

Vielleicht waren dem Mädchen K.O.-Tropfen verabreicht worden, vielleicht hat sie sich bei einem Unfall den Kopf gestoßen.

Ich hatte mehr erwartet als von gewöhnlichen Passanten, die ja auch in Elmar W. nur einen Besoffenen sahen.

Warum ich diese Geschichten erzähle? Nein, wirklich nicht, um mich meiner Hilfsbereitschaft zu rühmen.

Ich hoffe nur, dass andere, die dies lesen, sich in ähnlichen Situationen ebenfalls an den Bystander-Effekt besinnen – und dann ebenfalls handeln und nicht mehr wegsehen.

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