Es ist schon verzwickt mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker. Manche wollen selbst bestimmen und werden von uns dazu ausdrücklich ermuntert, andere wollen auch und dürfen nicht. Warum? Weil wir das so festlegen und basta! Wir? Nun, EU und NATO und Medien z. B.

Erinnert sich noch jemand an den Kosovo-Konflikt in den Neunzigern? Nachdem die EU tatkräftig den Zerfall Jugoslawiens unterstützt und u. A. die Unabhängigkeit Sloweniens oder Kroatiens gefördert hatte, wollten sich auch die Kosovo-Albaner von Rest-Jugoslawien abspalten. Dabei gingen sie nicht gerade zimperlich vor. Die paramilitärische UCK setzte Waffengewalt ein, auch gegen die im Kosovo lebenden Serben und gegen die dortige Polizei. Die jugoslawische Zentralregierung wollte sich das nicht bieten lassen und reagierte ebenso mit dem Einsatz von Militär und Polizei.

Die EU schlug sich natürlich auf die Seite der Kosovo-Albaner und getreu der Devise und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt, bombardierte die NATO 1999 schließlich mit dem Segen der EU und insbesondere der rot-grünen deutschen Bundesregierung Jugoslawien und jugoslawische Großstädte, was dort zu einigen Tausend Toten führte. Außenkriegsminister Joschka Fischer bemühte sogar Auschwitz, um das Bombardement jugoslawischer Städte zu rechtfertigen „Nie wieder Auschwitz“.

Was die Serben mit Auschwitz zu tun hatten, außer dass im "kroatischen Auschwitz" Jasenovac wohl hunderttausende Serben zu Tode kamen, erschließt sich wohl nur der fischerschen Logik. Wie dem auch sei, die NATO und die EU hatten Erfolg. Das Kosovo wurde erst für eine Schamesfrist von zehn Jahren unter Verwaltungshoheit der UN gestellt, die dazu genutzt werden konnte, die Bevölkerungsstruktur ein wenig im Sinne der Albaner zu "optimieren", sprich dort lebende Serben aus dem Kosovo zu „komplementieren“ und im Jahr 2008 erklärte das Kosovo seine Unabhängigkeit. Mission erfüllt. Welches gehörte zu den Ländern, die als erstes die Unabhängigkeit des Kosovo anerkannten? Richtig, Deutschland! Vielleicht fühlen sich deshalb so viele kosovarische Clans in unseren Großstädten pudelwohl, ob mit oder ohne abgelehnten Asylantrag.

Uns scheint in Deutschland und der EU also eine gewisse Vorliebe für die Unabhängigkeit der Völker und deren Selbstbestimmungsrecht eigen zu sein. Wenn wir die Unabhängigkeit des Kosovo sogar herbeigebombt haben, müsste uns da nicht auch der Wunsch der Katalanen nach Unabhängigkeit von Spanien eine Herzensangelegenheit sein?

By the way: Das Kosovo hat mit einer Fläche von knapp 11.000 km² gerade einmal zwei Drittel der Fläche von Schleswig-Holstein und mit 1,9 Mio. Einwohnern auch nur ca. zwei Drittel von dessen Einwohnerzahl. Ist nicht gerade üppig für einen armen, sehr armen Staat. Ein unabhängiges Katalonien wäre von der Fläche dagegen drei Mal so groß und von der Einwohnerzahl fast vier Mal. Von der Fläche her entspräche es etwa der Größe Belgiens, von der Bevölkerungszahl wäre es deutlich größer als Dänemark oder Finnland und nur wenig kleiner als Österreich. Und beim Bruttoinlandsprodukt läge es deutlich vor Portugal.

Trotzdem sind wir strikt gegen die katalonischen Separatisten. Ja, warum denn eigentlich? Wo wir doch den Zerfall Jugoslawiens so nachdrücklich gefördert haben. Gilt nicht gleiches Recht für alle? Jugoslawien war ein Völkergefängnis? Die unterschiedlichen Volksgruppen passten dort nicht zusammen und konnten nicht unter einem gemeinsamen Dach miteinander leben? Aber unter dem Dach der EU können verschiedene Völker miteinander leben, obwohl die EU immer stärker reglementiert, interveniert und kontrolliert? Erstaunlich.

So liegt der Verdacht nahe, dass es hier gar nicht um das Selbstbestimmungsrecht der Völker geht, sondern wie immer um Machtpolitik und Ideologie. Der jugoslawische Staat und Serbien galten aufgrund ihrer traditionellen Nähe zu Russland als Hort des Bösen, den es zu bekämpfen galt. Hier ist man im Westen auf dem Stand von vor dem Fall der Mauer stehengeblieben. Da kann man Deutschland und der EU also nur eine Entwicklungsstörung bescheinigen. Darum sind hier auch die paramilitärischen Verfechter der Unabhängigkeit des Kosovo von der UCK keine bösen Separatisten, sondern Freiheitskämpfer gewesen.

Anders im Fall von Katalonien. Da sind die Organisatoren friedlicher Proteste und des auch in Deutschland gar nicht hoch genug geschätzten zivilen Ungehorsams plötzlich böse Separatisten und niemand zuckt, wenn diese verhaftet und ohne Gerichtsurteil ins Gefängnis geworfen werden. Welche Scheinheiligkeit. Welches Messen mit zwei Maßstäben. So kann man sicher sein, niemand in der EU oder in Deutschland wird den Finger rühren, wenn Spanien mit brachialer Gewalt gegen die katalonische Unabhängigkeitsbewegung vorgehen sollte. Niemand wird Madrid bombardieren, eher schon Barcelona.

Kleiner Nachtrag zur Scheinheiligkeit: Während die EU und deutsche Medien unisono nicht müde werden zu betonen, dass ein unabhängiges Katalonien keine Chance auf Mitgliedschaft in der EU hätte, ist man seit dem Austrittsgesuch Großbritannien da bezüglich einer EU-Mitgliedschaft Schottlands sehr viel aufgeschlossener und sendet schon mal Zeichen nach Edinburgh, dass eine Unabhängigkeit Schottlands, 2014 noch ein Albtraum für EU wie die deutsche Medienlandschaft, nun eine feine Sache wäre. Also vielleicht demnächst Bomben auf London? Ja, wir sind sehr flexibel bei der Auslegung unsrer Prinzipien, die sich natürlich immer am Völkerrecht und der Menschlichkeit orientieren. Wer hätte auch anderes erwartet.