Irgendwie werde ich immer sauer, wenn man mich für dumm verkaufen will. Geht vielleicht jedem Menschen so, der noch den Ehrgeiz besitzt, selber eins und eins zusammenzählen zu wollen und nicht das Denken anderen überlässt. Die Anhänger des betreuten Denkens dagegen sammeln sich derweil wieder einmal, um gegen Russland zu Felde zu ziehen. Ursache: Der "Nervengift-Angriff" Russlands auf Großbritannien. Dieser muss es ein sehr umfassender gewesen sein, der Nerven und Verstand Unzähliger in Großbritannien, aber auch den USA, Deutschland und Frankreich arg in Mitleidenschaft gezogen hat.
Glaubt man der Schilderung der britischen Premierministerin May, hat Russland versucht, den in Großbritannien lebenden ehemaligen russischen Doppelagenten Skripal und dessen Tochter mit dem Nervengift Nowitschok umzubringen. Aus Rache natürlich. Für den Verrat. Der über zehn Jahre zurück liegt. Und während die Briten, geht es um die Aufklärung des tausendfachen Missbrauchs junger Mädchen durch muslimische Gangs sehr zurückhaltend sind und hier jahrelang rein gar nichts geschah, ist man im Falle des Nervengiftangriffs sehr schnell dabei, einen Schuldigen zu finden. Beweise sind da nicht mehr nötig. Anders kann man das Ultimatum Mays an Moskau, das Geschehen "aufzuklären", ohne Russland wirklich in die Ermittlungen einzubinden, nicht interpretieren.
Mir ist das alles etwas zu einfach. Welches Interesse sollte Russland haben, einen vor 14 Jahren enttarnten Agenten aus den eigenen Reihen, der in Russland verurteilt wurde, dort Jahre eingesessen hat und im Rahmen eines Agentenaustausches bereits im Jahr 2010 nach Großbritannien kam, nun plötzlich zu töten? Aus Rache? Dann hätte man es längst tun können. Und nimmt man den guten Mann da nicht zu wichtig? Wäre er es wert, deswegen die Beziehungen zum Westen weiter zu belasten? Und wenn man ihn schon töten wollte, warum dann auf diese dilettantische Weise? Ginge es da nicht auch eine Nummer kleiner und unauffälliger? Welches Interesse sollte Russland haben, es sich vor den Präsidentenwahlen, vor der Fußball-WM im eigenen Land, mit dem Westen zu verderben? Haben die etwa ein Interesse an verschärften Sanktionen gegen ihr Land?
Auch wenn das offenbar eingesetzte Nervengift Nowitschok in der Sowjetunion seit den siebziger Jahren entwickelt und bis Mitte der neunziger Jahre produziert wurde, so heißt dies nicht, dass es nur dort hergestellt werden kann. Zudem wurde es zu Zeiten der Sowjetunion nicht nur auf dem Gebiet des heutigen Russlands gelagert, sondern auch in Gebieten, die heute unabhängig sind wie Usbekistan oder die Ukraine. Auch dort hatte und hat man es womöglich noch irgendwo vorrätig. Kiew kann im Gegensatz zu Moskau jedenfalls ein gewisses Interesse daran nicht abgesprochen werden, dass es zu Spannungen zwischen dem Westen und Russland kommt. Und wenn schon Rache im Spiel ist, wer sagt denn, dass es nicht ein privater Rachefeldzug eines ehemaligen Agenten war, der durch Skripal zu Schaden kam? Hier sind also noch viele Fragen offen. Wie schnell sich die Briten und insgesamt der Westen jedoch auf Putin und Russland als den Übeltäter versteifen, ohne die Ermittlungen abzuwarten, ohne Russland dabei zumindest informativ einzubinden und ohne Beweise vorlegen zu können, lässt nichts Gutes ahnen. Besonnenheit wie Klugheit scheinen heute nicht zu den Tugenden der Politik des Westens zu zählen. Eher schon Kriegslüsternheit gepaart mit Dummheit.
Da wird Russland zum Beelzebub gemacht, der alle bedroht und dem jedes zuzutrauen ist. Dabei ist man sich auch nicht zu schade in die Groteske abzugleiten, z. B. wenn die Regierung Trump verschärfte Sanktionen gegen Russland wegen angeblicher russischer Beeinflussung der letzten Präsidentenwahl verhängt. Mit anderen Worten - Trump klagt die Russen dafür an, dass er gewählt wurde. Ist das nicht köstlich?
Die Russen müssen jedenfalls sehr mächtig sein, wenn sie darüber entscheiden können, wer in den USA Präsident wird. Womöglich gehen auch Erdbeben, das Sauriersterben vor 66 Millionen Jahren und der Urknall auf sie zurück. Erstaunlich, dass sie dann nicht bereits die Weltherrschaft besitzen. Auf jeden Fall täte der Westen gut daran, im Kampf gegen die bösen Russen verbal etwas abzurüsten. Wer so überzieht, läuft Gefahr, dass er im eigenen Land an Glaubwürdigkeit verliert. Oder ist mehr als 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges Kriegslüsternheit wieder en vogue?
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