Die Diskussion um Erdogan und Böhmermann nimmt immer groteskere Züge an. Nun äußert die deutsche Kanzlerin plötzlich, dass es ihr leid tue, das „Gedicht“ von Böhmermann bewusst verletzend genannt zu haben. Ja, was war es denn dann? Unbewusst verletzend? Wollte Böhmermann eigentlich ein Loblied auf Erdogan anstimmen und das ist ihm leider irgendwie misslungen? Es scheint jedoch eher mal wieder so zu sein, dass Merkel ihr Fähnlein in den Wind hängt. Ihre Entscheidung in der Causa Böhmermann ist offensichtlich schlimmer aufgenommen worden als von ihr befürchtet und nun rudert sie ein wenig zurück. Ja, das Grundprinzip der Dame ist immer noch ihre Prinzipienlosigkeit. Dabei lag sie mit Ihrer Entscheidung zu Böhmermann ausnahmsweise einmal richtig. Denn gerade die, die nun wegen der Zulassung der Klage von Erdogan die Demokratie in Deutschland gefährdet sehen, zeigen, wie wenig sie sich selbst mit Grundprinzipien der Demokratie identifizieren. Sie sind es, die die Demokratie gefährden.

Muss ich, nur weil ich Erdogan nicht mag, den Mist von Böhmermann lieben? Ist es denn nicht mehr möglich, Kritik an Erdogan auf sprachlich ansprechendem Niveau, gerne auch satirisch, zu äußern? Sind Fäkalsprache und holprige Reime jetzt das Nonplusultra deutscher Kultur? Hätte Böhmermann bezogen auf einen Deutschen gereimt: „Zwischen Zugspitze und Königsstuhl weiß jeder dieser Mann ist schwul, pervers, verlaust und zoophil...“, so hätte er sich nicht wundern müssen, eine Klage an den Hals zu bekommen. Und ich möchte nicht wissen, was für ein Shitstorm losgebrochen wäre angesichts der Gleichsetzung von schwul und pervers. Wenn es gegen Erdogan geht, ist das aber alles ok?

Wer austeilt, muss auch einstecken können. Und bitte, was ist denn bisher geschehen? Böhmermann wurde nicht verhaftet, in kein Lager verschleppt, nicht gefoltert, er wurde nicht an die Türkei ausgeliefert, nein, gegen ihn läuft nur eine Klage. Das Verfahren wird glimpflich für ihn ausgehen, das steht jetzt schon fest. Schließlich hat der deutsche Justizminister bereits betont, dass er den Paragraphen 103 des Strafgesetzbuches schnellstmöglich abschaffen will. Künftig kann also jeder Deutsche ausländische Staatsoberhäupter mit den schlimmsten Schimpfwörtern belegen. Das ist die neue hohe Kultur der politischen Auseinandersetzung, das ist neues deutsches Herrenmenschentum.

Am liebsten wäre es vielen ganz offensichtlich gewesen, die deutsche Kanzlerin hätte die Klage Erdogans verhindert. Verstehe ich richtig: Es wird also ausdrücklich gewünscht, dass die Politik Gerichtsverfahren verhindert. Ist das nicht genau das, was wir an Erdogan kritisieren? Einflussnahme der Politik auf den Rechtsweg. Was in der Türkei schlecht ist, ist also bei uns gut? Vertrauen wir der deutschen Gerichtsbarkeit nicht? Oder wissen wir insgeheim, dass Böhmermann mit seiner Kritik viel zu weit gegangen ist und auch ein Gericht das nicht ausblenden kann. Weil es aber aus unserer Sicht mit Erdogan den Richtigen getroffen hat, soll er bitte nicht die Chance auf ein faires Gerichtsverfahren bekommen? Das wäre mehr als bedenklich.

In Deutschland hat sich ein neuer Chauvinismus breit gemacht. Ein Bessermenschenchauvinismus. Wir wollen aller Welt erklären, was gut und richtig ist und wie es auf der Welt zuzugehen hat. Wir versuchen jedoch nicht mit Argumenten zu überzeugen, sondern ergehen uns in Beschimpfungen gewürzt mit einer großen Prise Überheblichkeit. Da wird dann Erdogan auch schon mal zum Diktator erklärt, obwohl er sich nicht an die Macht geputscht hat, sondern von einer großen Mehrheit seines Volkes in freien Wahlen gewählt wurde. Und das ist ein nächster Punkt. Die Fäkalkritik an Erdogan werden viele Türken auch auf sich beziehen. Sie werden sich mit Erdogan solidarisieren und abgeschreckt sein von einem Deutschland, dessen höchster Ausfluss von Kultur inzwischen nur mehr „Schweinepfürze“ und „Schrumpelklöten“ sind.

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sisterect

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Marian Eisler

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