Stellen wir uns folgendes Bild vor: Da ist eine Gruppe Jungen, sechs oder sieben an der Zahl und sie haben einen einzelnen Jungen sich gegenüber. Er ist zwar recht stark, doch sie sind in der Mehrzahl und das macht ihn in ihren Augen schwach. Sie traktieren und provozieren ihn, mit Worten, mit Tritten, sie schubsen ihn. Das Überlegenheitsgefühl berauscht sie. Ihnen kann niemand etwas. Am wenigsten dieser einzelne Junge. Eine Szene, die viele schon einmal erlebt haben. Doch da geschieht das völlig Unerwartete. Der Junge läuft wutentbrannt Amok, schlägt wie wild um sich, zückt ein Messer und verletzt einen der anderen Jungen schwer.
Wie würde ein unabhängiger Beobachter die Situation einschätzen? Käme er zu dem Urteil, die sieben Jungen hätten den einen zuvor nur heftiger attackieren müssen und das ganze hätte vermieden werden können? Die Jungs trifft keinerlei Schuld, nur den einen? Wohl kaum. Doch im Verhältnis des Westens zu Russland erleben wir derzeit ein solches widersinniges und selbstgerechtes Urteil.
Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus hat der Westen Russland nie wirklich eine Chance auf faire Teilhabe und Partnerschaft geboten. Man hat die Russen gedemütigt, wo man nur konnte. So hat man entgegen aller Versprechungen die NATO bis vor die Tür Russlands ausgedehnt. Das fanden die Russen ebenso wenig lustig wie die USA 1962 die Aufstellung sowjetischer Raketen auf Kuba. Und bitte, seien wir ehrlich, die NATO ist beileibe kein harmloses Verteidigungsbündnis, das hat sie viele Male unter Beweis gestellt. So zum Beispiel 1999 als man unter deutscher Beteiligung einen Krieg gegen Serbien begann und Belgrad gegen jedes Völkerrecht bombardierte, um die Abspaltung des Kosovo von Serbien zu erzwingen. Was der Westen den Kosovaren zubilligte, nämlich selber zu entscheiden, welchem Staat man angehören will, billigten man den mehrheitlich die Krim bevölkernden Russen 2014 nicht zu.
Und die Liste ließe sich unendlich fortsetzen. Man ließ die Russen NordStream 2 bauen und als die Pipeline fertig war, wollte man sie nicht mehr. Und das lange vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine. Russische Sportler können seit Jahren bei großen internationalen Wettkämpfen nicht als Nationalteam unter ihrer Flagge antreten, weil Russland systematisches Doping nachgesagt wird und unzureichende Kooperation. Es mag sein, dass dies zutrifft, doch in mindestens ebensolchem Ausmaß auch auf die USA. Der Sprinter Justin Gatlin wurde zwei Mal des Dopings überführt, statt eigentlich fälliger lebenslanger Sperre wurde er nur 4 Jahre gesperrt und konnte trotz weiterer Hinweise auf Doping bei Olympia und Weltmeisterschaften antreten.
Jetzt ist eingetreten, was der Westen, oder sagen wir besser die EU, nicht erwartet hat. Putin ist wie der Junge in unserem Beispiel Amok gelaufen. Er hat die Ukraine angegriffen. Ein Krieg, der zu verurteilen ist. Doch wir sollten bitte daran denken, dass dies auch für die Kriege des Westens z. B. 2003 im Irak oder 2011 in Libyen gilt.
Was im Falle des aktuellen Ukrainekonflikts auch erschreckt, ist die in Deutschland fast schon an 1914 erinnernde Kriegsbegeisterung selbst in alternativen Internetmedien. Selbst Pazifisten schreien nach mehr Waffen, einer stärkeren Bundeswehr, man will es Putin zeigen. Als ob das die Lösung wäre. Keinerlei oder fast keinerlei Selbstreflexion, was der Westen zu dieser Situation beigetragen hat.
Statt dessen gibt es wirre Forderungen, sich komplett unabhängig zu machen, von russischem Gas und Öl, aber auch von China. Auch in Europa, zumindest in Deutschland scheint man den Verstand zu verlieren. 55% des deutschen Erdgases kommen aus Russland. Das ersetzen wir dann jetzt mit dem Segen der Grünen mit teurem amerikanischen Frackinggas, über das wir noch kürzlich belehrt wurden, wie umweltschädlich es ist? Abgesehen davon, fehlt die Infrastruktur für einen solchen schnellen Wechsel. Wir produzieren künftig alles wieder selbst? Hat bei den FFP2-Masken ja schon mal wunderbar funktioniert. Fast alle deutschen Hersteller sind wieder raus aus dem Geschäft, weil zu teuer. Was sind das für irre Vorstellungen, die, kaum machbar, zudem einen ungeheuren Wohlstandsverlust bedeuten würden.
Während Europa also Amok läuft, können sich die Amerikaner die Hände reiben. 1990 war die größte Angst der USA ein geeintes Europa, das eine enge Partnerschaft mit einem marktwirtschaftlich orientierten und demokratisierten Russland verbindet. Hier hätte ein Gegenpool zu den USA entstehen können. Dass die USA dies um jeden Preis verhindern wollten, ist nachvollziehbar. Dass Deutschland und die EU sie bei diesem Vorhaben aktiv unterstützt haben, allerdings nicht. Es spricht einmal mehr für die Beschränktheit europäischer Politik. Jetzt ist die Karre für Europa im Dreck. Ein Amok laufender Putin, dem Irrsinn anheimfallende Europäer und Amerikaner, die sich ins Fäustchen lachen.
Statt in Europa ein Gegengewicht zu den USA und China zu schaffen, werden Russland und die EU für Jahrzehnte keine Rolle mehr im Weltgeschehen spielen. Deutschland und die EU werden noch abhängiger von den USA und erpressbarer. Das Verhältnis zwischen den USA und den europäischen „Verbündeten“ wird mehr noch als schon jetzt an das Abhängigkeitsverhältnis der Ostblockstaaten von der Sowjetunion erinnern. Wenn das keine Ironie der Geschichte ist. Und Anerkennung an die USA: Ziel erreicht, kann man nur konstatieren, denn über Moral reden wir besser nicht. Und unsere westlichen Werte? Oh Gott, bitte lassen wir das. Werte, die nur auf dem Papier stehen und nicht gelebt werden, sind eben nichts wert.
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