Wenn jemand zum Heiligen gemacht werden soll, wird mir immer irgendwie ganz unheilig. Wenn alle scheinbar einer Meinung sind auch. Wenn jeder, der nicht mitmacht, ein böser ist, erst recht. Momentan müssen alle mitmachen bei "Freiheit für Deniz". Wer ist Deniz Yücel eigentlich? Und wissen das alle, die "Freiheit für Deniz" fordern?

Ich hab mich über ihn informiert. Denn ich schreibe nur ungern über etwas oder jemanden, über das/den ich wenig bis nichts weiß. Gut, das sehen und praktizieren heute viele anders. Aber man muss es ihnen ja nicht gleich tun.

Deniz Yücel ist ein streitbarer Journalist. Das ist gut, denn so soll Journalismus sein. Zuweilen scheint er mir jedoch etwas über das Ziel hinaus geschossen zu sein. So z. B. als er 2012 in einem Beitrag für die "taz" unseren inzwischen allseits beliebten (Ex)-Bundespräsidenten Joachim Gauck als "reaktionären Stinkstiefel" bezeichnete. Schlimmer freilich erging es Thilo Sarrazin, dem er im gleichen Jahr wünschte "der nächste Schlaganfall möge sein Werk gründlicher verrichten." Das ist schon starker Tobak, man kann es auch menschenverachtend nennen, und das brachte ihm immerhin - erstaunlich - eine Rüge des Deutschen (nicht des Türkischen) Presserates ein.

Nun, die taz-Zeiten sind vorbei. Inzwischen ist der ehemalige taz-Schreiber Yücel, der sowohl die deutsche wie die türkische Staatsbürgerschaft besitzt, für die ehemals konservative Zeitung "Die Welt" tätig. Als solcher werden ihm von der türkischen Regierung Kontakte zu der als Terrororganisation eingestuften marxistisch-leninistischen türkischen Hackergruppe RedHack vorgeworfen. Diese hatte den E-Mail-Zugang des türkischen Energieministers Berat Albayrak gehackt und Yücel hatte in der Welt zwei Artikel über den Inhalt der Mails veröffentlicht. Im Dezember 2016 wurde von türkischer Seite daher Haftbefehl gegen Yücel erlassen. Dies war ihm bekannt, als er im Februar in die Türkei reiste.

Wir alle wissen spätestens seit Edward Snowden, der übrigens kein Türke ist und der demzufolge auch nicht von Erdogan, sondern von Obama per Haftbefehl gesucht wurde und von Trump weiter gesucht wird, dass Staaten kein Pardon kennen, wenn es ans Eingemachte geht, d. h. wenn Regierungsdaten von Hackern abgegriffen und publik gemacht werden. Natürlich kann man sich fragen, ob die Inhaftierung von Yücel in der Türkei verhältnismäßig ist. Sicher ist sie das nicht. Aber sind es die Reaktionen in Deutschland? Auch da bin ich mir eher unsicher. Da fordern Politiker ein Einreiseverbot für Erdogan. Nachdem wir nun schon Putin, Trump, Orban, die Polen und alle möglichen Leute auf dem Index haben, frage ich mich, wollen wir demnächst vielleicht wieder der ganzen Welt den Krieg erklären? Ist Diplomatie außer Mode?

Auch manche Solidaritätsbekundung hinterlässt einen üblen Beigeschmack. So z. B. die Anzeigenaktion, mit der gestern in vielen Tageszeitungen "Freiheit für Deniz" gefordert wurde. Das Merkwürdige, einige der Unterzeichner wussten gar nicht, dass sie unterzeichnet hatten, weshalb die FAZ sich überfahren fühlte und nicht mit machte.

All dies erinnert mich an Zeiten der deutschen Geschichte, die ich überwunden glaubte. Das trifft übrigens auch auf einen Beschluss zu, den das EU-Parlament Ende letzten Jahres klammheimlich fasste, ohne ihn publik zu machen. Laut Regel 165 darf nun der Parlamentspräsident „im Fall diffamierender, rassistischer und fremdenfeindlicher Sprache oder Verhaltens“ die Live-Übertragung aus dem Parlament unterbrechen und mehr noch, später auch die entsprechenden Passagen aus den Plenarprotokollen löschen. Orwell lässt grüßen. Was "diffamierend" ist, legt selbstverständlich der Präsident nach eigenem Gusto fest. Also, meine ganz persönliche Meinung, da steht das EU-Parlament Herrn Erdogan scheinbar nur wenig nach. Vielleicht sollten wir es in Deutschland und Europa wieder lernen, erst einmal vor der eigenen Haustür zu kehren, bevor wir andere Länder belehren.

https://www.youtube.com/watch?v=gsthWUUHVZE

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