"Dann mache ich Ihnen die Indikation also für nächsten Monat fertig, ja?"

Ich traue meinen Ohren kaum als mein Arzt diese Worte ausspicht, daher starre ich ihn mit offenem Mund an.

"Also, wenn Sie das dann noch wollen."

Ich meine mir einzubilden äußerlich cool geblieben zu sein und lässig genickt zu haben. Innerlich war ich eher so...

OH MEIN GOTT!!!!11!eins!elf!!1 OMGOMGOMG!!!!!

Der Impuls ihn zu umarmen und durch den Raum zu breakdancen wird nur mühsam unterdrückt. Als ich nach draußen gelange, merke ich wie Tränen meine Wangen runterlaufen und ich mich an eine Wand lehnen muss.

Nächsten Monat würde es also so weit sein - ich bekomme Testosteron. Viel eher als gedacht und ich kann mein Glück kaum fassen. Nachdem ich allen möglichen Leuten geschrieben habe und Weihnachtssongmelodien trällernd durch die halbe Stadt getingelt bin, rufe ich meine Mutter an und teile ihr die frohe Botschaft mit. Zuerst freut sie sich sehr für mich, doch plötzlich bricht ihre Stimme ein bisschen, nur für einen kurzen Moment.

"Das wird dann alles so real machen. Die OP's werden kommen, du wirst Schmerzen haben, man weiß nicht was kommen wird... Oh, mein Kind! Das wird dein letztes Weihnachten als Frau sein! Also, naja.. du weißt wie ich das meine..."

Während mich dieser Gedanke vorallem in einen ekstaseähnliche Zustand versetzt, beängstigt er Teile meiner Umwelt. Nicht nur meine Mutter, auch Freunde freuen sich zwar für mich, äußern nun aber auch Bedenken. "Hast du keine Angst?"

Obwohl ich ein bis dato ziemlich furchtsamer Mensch war und lange mit einer Angstproblematik zu kämpfen hatte (ein Kampf der wahrscheinlich nie ganz abgeschlossen sein wird), verspüre ich keine wirkliche existenzielle Angst wenn ich an die Zukunft denke. Vielleicht sogar das erste Mal in meinem Leben. Vor den operativen Eingriffen und wie mein Körper auf Testosteron reagieren wird, davor habe ich natürlich größten Respekt. Alles andere wäre auch naiv. Aber wirkliche Angst?

Beängstigend ist es nicht zu wissen wer man ist oder was man mit seinem Leben anfangen soll. Das Gefühl mit seinen Empfindungen allein auf dieser Welt zu sein und sich nirgendwo dazugehörig zu fühlen. Nicht zu wissen, was mit einem los ist, sich irgendwie "falsch" zu empfinden und wenn einem kein Grund einfällt, warum man eigentlich noch aus dem Bett aufstehen sollte. Sich als Last für einen selbst und die Umwelt zu empfinden. Mit meinem inneren Outing konnte ich auch viele meiner Ängste loslassen. Natürlich mache ich mir Gedanken um die Zukunft und ich würde lügen, zu glauben, die nächsten Jahre würden einfach werden, denn:

Werden die Menschen mich akzeptieren? Werde ich jemals als "echter" Mann wahrgenommen werden oder in ihren Kopfen ewig eine Ex-Frau bleiben? Wie wird es für mich sein, das nächste Jahr männlich, aber ohne geschlechtsangleichende OP durch die Weltgeschichte zu laufen? Kann ich lernen mich damit zu arrangieren und mich dennoch als vollwertiger Mann zu fühlen? Und für meine Partnerin, wie wird dieser ganze Prozess für sie werden? Für meine Familie? Hätten meine Eltern sich nicht vielleicht doch leibliche Enkelkinder gewünscht und trauen sich nur nicht das zu äußern?

Diese Gedanken beschäftigen mich natürlich viel und ja, sie sind mit Ängsten verbunden, aber sie sind nicht diffus und somit lähmend, sondern irgendwie einfach... gesund. Ich bin so sehr davon überzeugt, dass ich das richtige tue, dass die Kraft die ich daraus ziehe, die Ängste um ein vielfaches überwiegt.

Dies wird also irgendwie mein letztes Weihnachtsfest sein. Und das letzte Neujahr. Es wird sowas wie ein letzter Kaffee getrunken, ein letzter Spaziergang wird unternommen. Verdammt nochmal - es wird ein letztes OB geben! Dies wird der Monat der letzten Male und in meine Freude mischt sich nun auch zum ersten Mal ein Fünkchen Melanchonie.

Ich freue mich auf mein letztes Weihnachten. Aber noch viel mehr freue ich mich auf mein erstes Weihnachten danach.

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Jessi

Jessi bewertete diesen Eintrag 25.12.2015 09:54:20

fischundfleisch

fischundfleisch bewertete diesen Eintrag 18.12.2015 19:39:35

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